Was ist eigentlich los mit dem alten Bruder Rock? Früher war der Beginn von Konzerten nicht vor 21 Uhr terminiert, aber an diesem kalten Freitagabend im November sollen Selig die Bühne in Köln schon um 19.30 Uhr betreten? Leute, ehrlich mal, das kann doch nicht sein?! Und dies alles nur, weil ab 22 Uhr schon wieder eine Party in der Live Music Hall gefeiert werden soll? Entsprechend stressig gestaltete sich für so manchen Konzertbesucher dann auch die Anreise, denn bekanntlich sind Köln und sämtliche Zubringer an einem Freitag hoffnungslos überfüllt. Somit waren längst nicht alle da, als Selig fünfzehn Minuten vor zwanzig Uhr die Bühne betraten. Was danach folgte war allerdings eine Rockshow, die dem Namen auch gerecht wird. Die „Kashmir Karma“-Tour von Selig unterstreicht, dass die Band ganz sicher zu den besten Live-Acts des Landes zu zählen ist.
Die Herren von Selig sind herrlich aus der Zeit gefallen. Die Hippies kriegt man aus dem Quartett – besonders aus Jan Plewka – nicht mehr raus. Und das ist verdammt schön zu wissen. Wer benutzt – abgesehen von Tocotronic – denn noch, wie Herr Plewka an diesem Abend, das Wort Enthusiasmus? Wer fragt in Zeiten von Smartphones noch nach Feuerzeugen, die in die Luft gehalten werden sollen. Wer gibt den Leuten heutzutage noch mit auf den Weg, dass sie sich einfach lieb haben sollen? Wer spielt sich den Arsch ab, tanzt, als würde nie mehr die Sonne aufgehen und sieht dazu noch aus, als wäre die zweite Hälfte der 60er in vollem Gange? Die Antwort ist denkbar einfach: Selig! Das komplette Konzert fühlt sich wie eine Zeitreise in eine längst vergangene Musikepoche an! Nein, das ist nicht altbacken, was da auf der Bühne passiert. Ehrliche und handgemachte Musik verliert nur immer mehr an Stellenwert. Warum eigentlich? Liebe Heranwachsenden: geht mal auf eine Rockshow, gerne darf es Selig sein, und lasst euch verzaubern und für zwei Stunden in eine andere Welt entführen. Es lohnt sich!
Man muss sich allerdings auch ein bisschen bei der Band entschuldigen. Was im letzten Hallendrittel abgeht, ist unter aller Kanone. Diese Unart, sich auf einem Konzert zu treffen um sich lauthals zu unterhalten, ist schlichtweg eine Frechheit. Das ist respektlos gegenüber der Band, aber auch gegenüber den anderen Konzertbesuchern! Wie kann bei einem so wunderschönen Song wie „Wintertag“ - übrigens sehr anschaulich und wortgewaltig von Jan Plewka mit einer Einleitung über die Entstehungsgeschichte versehen – eine derartige Unruhe entstehen? Leider zieht sich das durch das komplette Konzert! Und nein, das spricht nicht gegen die Band, die spielt nämlich ganz großartig auf! Es gibt eben ein paar Zeitgenossen, die haben den Sinn und Zweck eines Konzerts leider nicht verstanden!
Der Sound ist sensationell gut, der Bass sorgt dafür, dass am Merchstand fast die Shirts von der Wand fallen, die Drums drücken schön nach vorne und jede Nuance von dem feinen Gitarrenspiel von Christian Neander ist auszumachen. Und was wirklich selten ist, man versteht wirklich jedes Wort, welches aus dem Munde von Jan Plewka kommt. Ganz großes Kino! Es gibt hin und wieder zwar mal eine Rückkopplung und ein paar Kabelprobleme, aber das macht es nur sympathischer. Das hier ist eine Rockshow und keine perfekte Inszenierung.
Man sieht den Herren definitiv an, dass sie sehr viel Spaß auf der Bühne, miteinander, aber auch an dem neuen Album haben. Wie schön ist es doch, wenn eine Band ihr aktuelles Album in Gänze spielen kann!? Keyboards gibt es bekanntlich nicht mehr, aber das ist auch nicht weiter schlimm, denn so entwickelt das noch mehr Druck! Wie beispielsweise bei der epischen Version von „Sie Hat Geschrien“, die zum Schluss psychedelisch in Richtung Wüstenrock abbiegt. „Ohne Dich“ geht unter die Haut, Teile davon werden stimmgewaltig vom Kölner Publikum alleine gesungen. Alte Lieder wie „Bruderlos“ oder „High“ fügen sich perfekt zwischen den neuen Liedern ein. „DJ“, „Feuer Und Wasser“ und „Kashmir Karma“ sind einfach tolle Songs. Das neue Album ist eben unfassbar gut – besonders live! Ganz zum Schluss kommen die Vier noch mal raus und intonieren „Regenbogenleicht“. Man möchte danach jeden einzelnen Konzertbesucher umarmen! Jan Plewka kann bestimmt wieder nicht schlafen, weil alles so aufregend ist – jedenfalls hat er dies zuvor erzählt. Wer dieses Selig-Konzert gesehen und gehört hat, kann aber ganz bestimmt ganz vorzüglich schlafen, denn man hat die Gewissheit, dass die Menschheit noch nicht verloren ist – jedenfalls nicht mit derart großartiger Musik, die von solchen sympathischen Menschen gespielt wird. Die Kälte in Köln macht einem danach auch nichts mehr aus, weil einem ja nun warm um das Herz geworden ist!
Text: Torsten Schlimbach
(Torsten Schlimbach bedankt sich bei Annett Bonkowski von Verstärker Promotion, bei Sony Music und natürlich Selig für die freundliche Unterstützung!)