PJ Harvey: Let England Shake (Demo)
Universal
VÖ: 28.01.2022
Wertung: 10/12
Tipp!
Vor elf Jahren hat Polly Jean Harvey den Blick von sich selbst und auf ihre Heimat England gelenkt. Für ihr achtes Album wurde das große Ganze ins Auge gefasst. Die Bestandsaufnahme war eher bitter und es stand gar nicht gut um die einst große Seefahrernation. Man könnte meinen, dass sich bis zum Jahr 2021 sogar noch einiges verschlimmert hat. „Let England Shake“ hat nichts an Aktualität eingebüßt. PJ Harvey hat aber stets betont, dass es sich um kein politisches Album handeln würde. Interpretationssache. In ihrer großartigen Reihe der Demo-Veröffentlichungen wird nun auch „Let England Shake“ diese Ehre zuteil. Wer schnell war, konnte sogar eines der signierten Exemplare ordern.
Harvey war 2011 in großer Sorge um England. „England’s dancing days are done“ singt sie mit brüchiger Stimme. Kriege und Leichen pflastern den Weg. Um die Natur ist es auch nicht gut bestellt. Themen, die 2021 sogar noch dringlicher sind. Es gibt aber Hoffnung, nämlich die Kinder („The Glorious Land“). Das eigentliche Album ist ja reichlich obskur instrumentiert worden. Neben einigen elektronischen Versatzstücken gibt es auf „Let England Shake“ Xylofon, Handclaps, Tröten und Trommeln zu hören. In der reduzierten Form ist das nun fast bis zur Nacktheit seziert und reduziert. Es stellt sich ein völlig neues Hörerlebnis ein und die Dringlichkeit wird so noch mehr verstärkt. „England“ wirkt jetzt so schräg und verstörend, dass es einen als Zuhörer fröstelt und dabei war die bisher veröffentlichte Version ja schon unfassbar reduziert.
Der Titelsong ist musikalisch betörend und die Struktur des Gesangs geht einem nicht mehr aus dem Kopf. Die Idee der Dopplung ist genial. Die pure elektrische Gitarre bei „The Last Living Rose“ dröhnt in den schönsten Schattierungen, die dieses Instrument zu bieten hat. Und die Tröten bei „Glorious Land“ blasen immer noch zum Angriff. In der Demo-Version ist die Nummer noch direkter, noch purer. „The Words That Maketh Murder“ hat den Harvey-Swing, während „All And Everyone“ den traurigen Folk durch die Szenerie wehen lässt. Hier singt die große Künstlerin klar und unverstellt. Gänsehaut. Großes Ding!
„On Battleship Hill“ hat eine schöne Bassstruktur. Der entrückte Gesangsvortrag klingt wie eine Mischung aus Oper und japanischem Klagelied. „In The Dark Places“ ertönt tatsächlich wie im dunklen Keller gespielt – aufgenommen aus der Küche in der zweiten Etage. Es dröhnt und Harvey greint, als würde sie den ganzen Schmerz Englands verscheuchen. „Bitter Branches“ setzt dem dann endgültig die Krone auf. Auf dem eigentlichen Album hat das Stück durchaus Indie-Hitqualitäten, hier wird es zur puren Avantgarde. „Hanging In The Wire“ ist musikalisch dagegen klar, aufgeräumt und von einer gewissen Zärtlichkeit durchzogen. „Written On The Forehead“ und ganz besonders „The Colour Of The Earth“ sind in ihrer Reduktion großartig Schlusspunkte!
Fazit: Vielleicht war und ist es nicht gut um England bestellt – PJ Harvey hat dies jedenfalls zu einem Meisterwerk angestiftet. „Let England Shake“ ist kein einfaches Album, aber in all seiner Schroffheit trotzdem wunderschön. Noch deutlicher tritt dies bei der Demo-Variante zu Tage. Dies ist abermals mehr als nur eine Ergänzung zum eigentlichen Album. Eine tolle Reihe, die PJ Harvey da ins Leben gerufen hat! Chapeau!
Text: Torsten Schlimbach