Montagmittag Köln: um den Dom herrscht der totale Verkehrskollaps. Mal wieder. Irgendwie schaffen es die vier sympathischen Herren von Selig – trotzt Verspätung des Interviewers – mit ihrer entspannten Art das Kölner-Chaos vor der Tür schnell vergessen zu machen. Wer ein derart gutes Album wie „Kashmir Karma“ promoten möchte, hat aber auch allen Grund entspannt zu sein – auch wenn die Vorzeichen vor den Aufnahmen zunächst alles andere als positiv aussahen. Warum das so war und wie es bei „Kashmir Karma“ alles auf wundervolle Art und Weise endete, erzählen die Musiker im Interview.
Hallo die Herren, vielen Dank für eure Zeit! Euer neues Album - „Kashmir Karma“ - steht ja kurz vor der Veröffentlichung und irgendwie war nach dem Ausstieg von Malte Neumann ja wieder eine neue Selig-Phase angebrochen. Gab es da auch einen Zeitpunkt, wo ihr nicht wusstet, ob es mit Selig noch weitergeht?
Christian Neander: Wir wussten schon, dass es weitergehen wird. Wir wussten nur nicht in welcher Form, denn das war überhaupt nicht klar. Wir haben uns dann Zeit genommen um genau das herauszufinden und hatten den Glücksfall, dass wir nach Schweden in das Haus von Jans Frau gefahren sind. Der Ansatz war aber eher, dass wir dort einfach nur zusammen Musik machen wollten. Wir hatten uns vom Management getrennt und hatten auch keine Plattenfirma mehr. Vogelfrei eben und dann haben wir da zusammen Musik gemacht. Übrigens an einem der schönsten Orte der Welt. Es ist wahnsinnig schön da.
Wer hatte denn die Idee mit Schweden?
Jan Plewka: Das war tatsächlich meine Frau. Die hat das Haus von ihrer Großmutter und ihrem Großvater geerbt. Der Großvater war Poet und die Großmutter Volksschullehrerin vor Ort. Immer wenn wir bei dem Häuschen sind, dann richten wir das weiter aus. Das soll mal so eine Art Alterswohnsitz werden. Das ist einfach ein magischer, wunderschöner Ort. Man sieht das Meer und die Schären. Und meine Frau kam dann auf Idee, wenn wir neue Lieder schreiben wollen, es doch mal an diesem Ort zu versuchen. Es ist ja nicht nur beim Schreiben der Lieder geblieben...
Stephan „Stoppel“ Eggert:...das hat sich dann verselbstständigt. Es ist dann nicht nur bei den 10 Tagen geblieben. Beim zweiten Aufenthalt haben wir dann auch entschieden, dass wir da aufnehmen wollen. Und das hat dann plötzlich ganz viel Fahrt aufgenommen und wir sind immer wieder an den Ort zurückgekehrt...
Christian:...genau. Und dann hatten wir eine Aufnahme – nämlich „Wintertag“ - und die haben wir immer so abgefeiert, bis dann irgendwann die Erkenntnis kam, dass das ja schon die Aufnahme ist. Also die finale. Das war überhaupt nicht so geplant, sondern das war zum Dokumentieren gedacht.
Das war auch euer erster Song für das Album, oder?
Christian: Genau, damit fing die Reise dann an.
Ich finde ja, dass das Album von einer großen Stilvielfalt geprägt ist. „Unsterblich“ ist ja stark psychedelisch angehaucht, geht vielleicht sogar ein bisschen in Richtung Krautrock...
(alle grinsen).
..oh, habe ich was Falsches gesagt?
Leo: Nein, nein, nein – überhaupt nicht.
Jan: Im Gegenteil, es freut uns sogar, dass Du das so gehört hast.
„Nimm Mich So Wie Du Bist“ hat dann wiederum etwas von eurem Trademark-Sound, „Alles Ist Nix“ erinnert mich sogar ein bisschen an die Stones und „Zu Bequem“ scheint vom Blues inspiriert zu sein.
Leo: Mach nur weiter, das ist echt schön, was Du über die Songs sagst (lacht).
Kurzum: hattet ihr eine grobe Idee, in welche Richtung es gehen sollte?
Jan: Die Grundidee, die wir nicht verlassen haben und die uns auch weiterhin führt, ist der Tag als wir ankamen: die Wahl in Amerika. Also der Tag davor. Wir sind mit der festen Vorstellung schlafen gegangen, dass Hillary Clinton am nächsten Tag Weltherrscherin sein wird. Als wir dann aufstanden war es dieser...dieser...hmmm...dieser Dispot. Wir waren wie vor den Kopf gestoßen - wie der Rest der Welt auch. Und wir saßen in dieser Holzhütte wie die Hobbits...
Christian:...im tiefsten Schnee muss man dazu sagen.
Jan:...genau, im Schnee und draußen war der schönste Wintertag, den man sich vorstellen kann. Skandinavien, blauer Himmel, die Sonne glitzerte auf dem Schnee. Eigentlich einer der schönsten Tage überhaupt. Gefrorene Äpfel am Baum. Wir dachten, dass muss doch jetzt eine Reaktion geben, gegen diesen Ekel. Dann sind wir spazieren gegangen. Und dann haben wir uns überlegt, dass wir uns nicht einladen lassen wollen. Einladen von diesem Hass, der ja auch aufkommen könnte. Wir haben dann beschlossen, dass wir eine freundliche und eine friedliche Platte machen wollen und wo zwischen den Zeilen auch die Visionen für eine bessere Zukunft der Welt stehen soll. Wir wollen freundlich miteinander umgehen. Ich meine, wir waren zehn Jahre getrennt und wir wissen nun wirklich wie es ist, wenn man nicht miteinander klarkommt. Wir haben es aber geschafft. Frieden ist machbar. Und genau das ist der Plan. Wir berufen uns auf dieser Platte ja auch auf Flowermetal. Das kann man sehr gut in dieser Zeit vertragen. Wir haben die Lieder ja auch in dem Wohnzimmer, in diesem Haus aufgenommen. Kein Lied ist außerhalb dieser Hütte entstanden.
War der Song „Kashmir Karma“ dann die letzte Nummer, die ihr für das Album geschrieben habt? Damit schließt sich für euch ja auch ein Kreis, denn in euren Anfängen habt ihr auf der Suche nach einem Bandnamen ja auch mal „Kashmir Karma“ ins Spiel gebracht.
Christian: Genau. Zunächst mal galt es einen Titel für unsere Tour zu finden. Die war schon ein Jahr vorher gebucht. Die Tour geht ja nächste Woche los. Auf jeden Fall ging es darum, dass Plakate gedruckt werden sollten und dann kam natürlich die Frage auf, wie denn überhaupt die Tour heißen soll. In dem Moment kam dann Leo mit der Idee um die Ecke, dass „Kashmir Karma“ doch ein toller Tourtitel wäre. Wir fanden das alle gut und haben uns dann dafür entschieden. Ja, und dann hatten wir plötzlich auch noch dieses Lied und somit den Titelsong gefunden. Und dann war natürlich auch klar, dass das Album wie die Tour und der Titelsong genannt werden sollte. Als der Song dann fertig war, haben wir den Song oben auf dem Felsen über dem Haus gehört und dann haben wir plötzlich auch gewusst, wo dieses „Kashmir Karma“ liegt, nämlich genau dort, wo wir gestanden haben.
Ich finde das Album ist sehr stark von der Rhythmussektion geprägt. Man hört das Schlagzeug und das Bassspiel schon sehr prägnant heraus. War das eine bewusste Entscheidung, nachdem euch die Keyboards rausgebrochen sind?
Leo: Das war keine bewusste Entscheidung. Wir haben sehr viele Sessions gemacht und aufgenommen...
Stephan...und die haben wir dann nacheinander gehört und geguckt, ob davon was hängen bleibt und ob uns davon irgendwas kickt. Dahinter steckten aber keine großen Pläne.
Leo: Was wir nie bewusst gemacht haben, aber wenn das Keyboard wegfällt, dann hat man auch mehr Platz für Gitarren und Bass. Wir sind halt auch eine Rockband. Das macht schon richtig Laune. Was auch wichtig war...oder anders: wir waren vorher bei Universal und da gab es von Labelseite immer die Diskussion, dass wir eine Radiosingle brauchen. Vielleicht sind wir mit dem „Magma“-Album und dem Produzenten dann auch ein bisschen zu poppig geworden. Diesmal wollten wir uns eigentlich um gar nichts kümmern, außer gemeinsam Musik zu entdecken die wir gut finden. Wir sind eben eine Rockband – mit den Einflüssen, die du eben genannt hast. Und was auch wichtig war, dass es schwingt und zwar miteinander. Eben nicht Tracks hin- und herschicken. Oder die Musik so zu produzieren bis sie tot ist. Es ging um das gemeinsame Empfinden. Analog eben und dass man gemeinsam in einem Raum ist. Das ist ja auch was anderes, wenn man sich trifft. Offline und nicht online chattet und so Ideen austauscht. Das kann man auch machen, klar. Das ist ja auch in Ordnung, aber bei uns ist es wichtig, dass wir in einem Raum gemeinsam eine Schwingung entwickeln und dann waren wir hinterher so auf einer Welle und wir wussten instinktiv, wenn das nicht so war. Die Sachen mussten wir entweder neu aufnehmen oder die flogen ganz raus.
Christian: Was auch noch mal den Unterschied ausgemacht hat ist, dass wir die ganze Zeit da zusammen gelebt haben. Jeder hatte zwar so ein kleines Zimmerchen, aber wir hingen die ganze Zeit zusammen, sind zusammen spazieren oder im Sommer zusammen schwimmen gegangen und mit diesem gemeinsamen Gefühl haben wir Musik gemacht. Und mit neuen Bildern und Eindrücken. Jan hat uns da ganz tolle Orte gezeigt.
Leo (begeistert): Und wir haben Abenteuer erlebt. Richtige Abenteuer. Morgens war das Wasser eingefroren und dann merkt man in der Walachei, wie wichtig Wasser eigentlich ist. Waschen, duschen, die Zähne putzen, auf´s Klo gehen – da hatten wir richtig ein Problem...
(alle lachen)
...und dann kam Christian auf die Idee, dass im Keller, also so ein Loch, wo das Naturwasser reingepumpt wird. Auf jeden Fall hatte Christian dann die Idee, da einen Radiator hinzustellen - so ein
Elektroding. Wir haben den ganzen Tag gewartet und sind dann doch alle pennen gegangen. Am nächsten Morgen habe ich mir dann die Zähne geputzt und erst zeitversetzt geschnallt, dass das Wasser wieder
geht.
Christian: Ich konnte die Jubelschreie bis in mein Zimmer hören.
Leo: Das Wasser ist da sooo wichtig.
Aufgrund der großen Verspieltheit, Vielfalt und musikalischen Bandbreite: gab es eigentlich auch mal Momente, wo euch einer bremsen musste und euch vielleicht gesagt hat, dass ihr einen Schlenker zu viel macht und auch mal zu einem Ende kommen müsst?
Jan: Ja, der Nachbar drüben in Schweden. Das ist ein alter Punkgitarrist. der damals mit der Roten Kapelle durch Skandinavien, Russland und die DDR getourt ist. Das war so eine politische Band, ähnlich wie Ton Steine Scherben bei uns. Der hat sich damals aus Liebe von seiner Band getrennt und ist mit seiner Frau nach dorthin gezogen und Postbote geworden und ist jetzt unser Nachbar in Schweden. Der hat einmal die Reißleine gezogen und ist so ein bisschen wie unser heimlicher Produzent. Bei dem schönen Lied „Wintertag“ wollten wir eigentlich noch so einen Beatles-Chor dranhängen...
Leo:...in der Bridge...
Jan:...und er saß einfach da mit seinem Glas Rotwein und meinte, dass wir das überhaupt nicht brauchen würden. Er hat uns bei der Platte sehr geholfen das alles zu reduzieren. Wenn die Stimmung da ist, dann ist es das und mehr braucht es dann auch nicht, hat er gesagt.
Leo: Und er hat uns auch geholfen. Bei „Zu Bequem“ beispielsweise. Er kam eines Abends an und wir fragten, ob er ein Glas Wein haben wolle und seine Antwort war natürlich „that´s why I´m here for“. Wir haben dann Wein getrunken und eine kleine Session gemacht – er liebte es mit uns Gitarre zu spielen – und dann ist eben „Zu Bequem“ an einem Tisch entstanden. Aber wir hatten da sowieso immer so Ideen oder Initiativen. Wir kamen dann auch drauf, dass wir „Lebenselixier“ neu aufnehmen sollten. Das ist das einzige Stück, welches wir ursprünglich in Berlin aufgenommen haben, aber irgendwie passte das nicht. Stoppel (Stephan Eggert) kam dann mit dieser I-Phone-Aufnahme an, die wir mit dem Nachbarn von Jan gemacht haben und dann haben wir aus diesem Anfangsding ein ganzes Stück entwickelt.
Christian: Hast du das Albumcover schon gesehen.
Ja. Du meinst das hier, oder?
Christian: Genau. Wir sind auf einen Berg gegangen und das ist der Blick auf die Schären. Alles für das Album ist eben in Schweden entstanden.
Stephan: Man muss auch dazu sagen, dass wir das teilweise zusammen im Kopf arrangiert haben, sind dann zurückgegangen und haben das direkt eingespielt – das war total abgefahren.
Blendet man, während man in dieser Schreib- und Aufnahmeblase steckt, eigentlich aus für was Selig bisher wahrgenommen wurden? Stichwort Erwartungshaltungen oder ein bestimmter Sound?
Jan: Ich glaube, das ist im Unterbewusstsein schon verankert. Wir machen das, was wir am Besten können und tun. Aber, wir haben auch sehr viel gemeinsam und zusammen gekocht. Wir haben nicht einen Tagl schlecht gegessen. Wir haben immer zusammen gekocht. Und so ist das auch mit dem Musikmachen. Jeder gibt seine beste Zutat und das kommt dann dabei raus. Durch all die Jahre haben wir ja auch viele musikalische Experimente gemacht. Mit „Blender“ haben wir versucht diesen Minimalismuszeitgeist zu übertrumpfen, „Magma“ war poppig. Ich glaube aber, dass man bei dem neuen Album, da wir das ohne Techniker oder Produzenten gemacht haben, die Selige-Essenz und die Grundgewürze, die jeder dazugibt, jetzt besser hört.
Stephan: Wir hatten natürlich auch die letzte Platte - „Magma“ - die sehr poppig war und da wird sehr viel drüber gemeckert und das Album hat schon stark polarisiert. Die Selig-Rockfans fragten dann schon, wann wir denn endlich mal wieder eine Rockplatte machen würden. Ja, und als wir jetzt die neue Platte gemacht haben, dachten wir dann manchmal schon, dass das jetzt bestimmt den Leuten gefallen wird, die über dies und das gemeckert haben. Das ist allerdings auch nichts, was einen anleiten würde.
Leo: Irgendwann haben wir das „Hier“-Album gehört und dann ist uns aufgefallen, dass wir damals ganz schön mutig waren. Das hat uns natürlich auch angespornt.
Und das zeigt uns auch, dass wir weiter mutig sein können. In Phase 2 – zur Erklärung: wir selber teilen Selig in Phasen ein. Also Phase 1 in den 90ern, dann Phase 2 bis zum Ausstieg von Malte und jetzt beginnt eben Phase 3. Also in Phase 2 wurden wir auch immer poppiger, vielleicht sogar zu poppig und dann gab es mit der Plattenfirma immer diese Diskussion mit Radiosingle und dann hat man das so ein bisschen mitgemacht.
Wer „Hier“ mag, müsste eigentlich „Kashmir Karma“ lieben.
Leo: Danke! Und dann gibt es ja auch so Momente wo man gemeinsam abhebt, beispielsweise bei „Unsterblich“. So wie es bei „High“ vom ersten Album schon der Fall war. Wie man sich in so eine Art Nirwana spielen kann. Ich weiß noch ein Take, wo Stoppel und ich uns angeguckt haben, weil wir so langsam waren. Ich habe so ein Lachkrampf gekriegt, weil wir am Tempo so geklebt haben und das echt ausgereizt haben. Daran erinnern wir uns bestimmt wieder, wenn wir die Songs live spielen.
Während des ganzen Prozesses von „Kashmir Karma“ ist in diesem Land und auf der Welt ja eine ganze Menge passiert, gab es von eurer Seite da Diskussionen, ob ihr euch thematisch dazu äußern wollt.
Jan: Das war Hauptthema. Hauptthemen, wenn wir uns unterhalten haben, war die Situation in der Welt, die Musik und was wir kochen werden. Das waren unsere Gesprächsthemen. Wir haben uns sehr viel mit der Weltsituation auseinandergesetzt. Wir haben am Küchentisch sogar Städte entwickelt, die für eine bessere Zukunft stehen. Wir haben uns über alles möglich unterhalten.
Leo: Die Verrohung der Sprache.
Jan: Genau, die Verrohung der Sprache. Wir saßen jetzt wirklich immer vor dem Kamin mit diesem kleinen Smartphone - in ganz Schweden hat man Netz und eine Verbindung – und wir haben da die ganzen politischen Nachrichten und Entwicklungen drauf geguckt. Wir haben den Brexit erlebt, wir haben Frankreich erlebt, wir haben die Wahl von Trump erlebt. Es waren immer die Zeiten, wo wir da waren. Das war schrecklich. Wir haben uns gesagt, dass wir als Reaktion das tun müssen, was wir am besten können und das ist diese Platte mit dieser wahnsinnig positiven Energie. Die Platte bejaht das Leben, die bejaht die Schönheit der Welt. Und in dieser Natur, wo wir das aufgenommen haben, sind wir immer rausgegangen mit unseren Demos und haben das verglichen, ob das diesem Blick auf die Natur standhält und wenn das so war, dann sind wir reingegangen und haben das aufgenommen.
Ein sehr schönes Schlusswort! Ich bedanke mich für das aufschlussreiche Gespräch!
(Torsten Schlimbach bedankt sich bei Annett Bonkowski von Verstärker Promotion, Kerstin Eggert von Sony Music und natürlich Selig für die freundliche Unterstützung!)
Im Februar 2013 steht endlich das neue Selig Album „Magma“ in den Läden. Es ist zwar zum Zeipunkt des Interviews noch ein bisschen hin bis zur VÖ, aber damit sich die Promotiontermine nicht auf den Füßen stehen, haben sich Lenard „Leo“ Schmidthals und Jan Plewka für einen Tag in Köln eingefunden um der hiesigen Presse alle Fragen rund um „Magma“ - und natürlich noch ein bisschen mehr – zu beantworten. Jan Plewka ist erkältet, die gute Laune lässt er sich aber nicht nehmen Beim Plausch vor dem eigentlichen Interview zeigt er erstaunliche Gedächtnisfähigkeiten. Er kann sich nicht nur an unser letztes Interview von 2010 erinnern, er hat auch seinen Terminkalender überraschend gut abgespeichert. Selbiger ist mit Selig, Rio Reiser-Projekt und Jelineks „Winterreise“ in Wien, bei der er ebenfalls mit von der Partie ist, gut gefüllt. Es ist also nur allzu verständlich, dass der Mann froh ist, dass er Weihnachten mal ein paar Tage frei hat. Jetzt und hier steht aber die neue Selig-Platte im Fokus.
Seit der Reunion ist ja schon wieder eine Menge im Selig-Kosmos passiert. Ich hatte den Eindruck, dass ihr bei „Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ eure Mitte gefunden hattet und sehr glücklich mit der Platte wart. Wie sieht jetzt eure Gefühlslage vor „Magma“ aus?
Jan: Das ist lustig, dass Du das sagst. Darüber reden wir nämlich auch die ganze Zeit. Das trifft es nämlich genau. Wir haben da die „Und Endlich Unendlich“ Platte wo es darum geht „wir schauen in den Morgen/wir stehen auf dem höchsten aller Berge“ und dies und das. Zum Teil ist das ja alles autobiografisch was wir da von uns geben. So ein bisschen spiegelt dies ja auch die Freude wieder, dass man nach einem ¾ Jahr wieder zusammen Musik machen kann. Dann war es bei uns ja so, dass es eingeschlagen ist wie eine Bombe. Die Konzerthallen waren voll, die Leute haben sich von Vierzehn bis Siebzig alle so gefreut – als hätte man auf uns gewartet. Dann haben wir das Album „Von Ewigkeit Zu Ewigkeit“ ziemlich schnell nachgeschossen. Wir mussten den damaligen Zustand einfach noch ausdrücken. Dieses Album ist nämlich so ein bisschen unser seliges Hochzeitsalbum. Eine Band, die sich wieder miteinander verheiratet hat und sich gesagt hat, dass es diesmal auch geschafft wird die schwierigen Zeiten zu überleben. Durch DICK und DÜNN eben, wie das bei so einer Ehe halt ist. Das haben wir in den 90ern übrigens nicht so gemacht. Jetzt ist es so, dass wir durch die Platten – die haben wir ja auch selber produziert – bei einem Selbstbewusstsein mit „Magma“ angekommen sind, welches der Zeit gleicht als wir uns gegründet hatten. Eine ganz merkwürdige Zeitreise, die wir in unserem musikalischen Leben gemacht haben. Jetzt hatten wir auch wieder die Chance auf dieses Miteinander wie es auch bei der ersten Platte war. Sich die Welt anzugucken, was zu ändern. Auch ein bisschen über die Stränge schlagen. „Wir brauchen einen Produzenten. Lasst uns in ein anderes Land gehen. Lasst uns wieder etwas wagen. Lasst und mal eine Platte ganz anders machen und dafür Zeit nehmen“ Wir wollten das beim Namen nennen wie es ist, wenn wir 5 in einem Raum sind. Das ist echt so ein Kraftfeld. Irgendwie ist immer irgendwas da zwischen uns. Das merken auch Außenstehende. Und dann kam das Wort Magma und das trifft es super gut. Der Plattentitel war also zuerst da und dann wurde die Platte geschrieben. Etwa ein Jahr haben wir daran geschrieben. Wir hatten dann 42 Skizzen – auch Inhalt und so. Es haben dann aber nicht alle durch diese Magma-Schleuse geschafft. Es geht nämlich wirklich um die Essenz von uns 5. Da sind wir wieder. Und wenn man so ein Selbstbewusstsein innerhalb hat und merkt, dass die Innenpolitik sehr gesund ist und Spaß macht und da eine große Demut und Dankbarkeit vorhanden ist, dann kann man sich auch wieder angucken was da draußen so in der Welt los ist.
Leo (lacht): Glaub ihm kein Wort!
Für die Aufnahmen seid ihr nach England und habt – anders als bei den Vorgängern - mit Steve Power wieder auf einen Produzenten gesetzt. Wie kam es dazu und wer hatte die Idee für den Aufnahmeort? Momentan fokussiert sich ja eher alles auf Berlin.
Leo: Da haben wir ja schon zwei Alben gemacht. Da waren wir alledings die Produzenten. Wir wussten nach den zwei Alben aber auch, dass wir jetzt mal jemanden fragen müssen. Es war alles gut so, wie wir das gemacht haben, aber am Ende des zweiten Albums haben wir uns danach gesehnt, dass man sich nur wieder auf das Instrument und die Band konzentrieren kann und nicht, dass man schon wieder an das Master denken muss, an den Abgabetermin, ähm, kann das im Radio laufen und solche Sachen. Das wollten wir alles nicht. Es sollte einzig und alleine nur um die Musik gehen. Wir haben dann in Deutschland gesucht und Freunde und Produzenten getroffen. Wir haben dann auch mal was probiert, aber irgendwie war das alles nicht so richtig das, was wir uns vorstellten. Wir haben dann auch mal ein bisschen ins Ausland geguckt und unser Toningenieur hat dann gesagt, dass er jemanden kennt der zu uns passen würde. Wir haben dann gesagt: „Mensch Alter, nimm doch mal die rosarote Brille ab! Warum sollte der uns denn...
Jan: ...Steve Power, der Rick Rubin Europas. Der irgendwie 40 Millionen Platten verkauft hat...
Leo:...warum sollte der Interesse an uns haben?“ Wir haben dann eine Mail geschrieben und dann kam auch eine Antwort zurück so „ja, ich habe gehört, dass Selig in Germany eine Outstanding Band sind“ und ja, dann hat er uns getroffen. Und dann stimmte das sofort. Musikalisch und geschmacklich waren wir sofort auf einer Wellenlänge.
Jan: Als der reinkam schon. Das ist so, als wenn man eine neue Wohnung sucht und sich sofort wohlfühlt.
Leo: Und dann hat er mit uns die Studios gesucht. Uns war es auch wichtig, dass wir aus Deutschland irgendwie rausgehen und dass wir und da irgendwie befreien. Nicht, dass uns das gestört hätte, aber es tat einfach gut mal woanders hinzugehen.
Jan: Ich persönlich schiele ja auch eher auf die englische Pop/Rock-Szene als jetzt nach Amerika. Und damals gab es Blur und die Stones Roses, die ja auch sehr viel Einfluss auf Selig hatten. Und dann diese Chance haben – und Steve fragte auch, ob wir denn in Deutschland oder England aufnehmen sollen – und wir wollten sofort nach England. Raus, raus, raus. Das ist auch die erste Selig-Platte, die nicht in einer Großstadt aufgenommen wurde. Bisher dachten wir dann auch, dass wir nach Berlin gehen, so „Alter, Berlin is hot“ und müssen den Granit aufsaugen und so.
Leo: Aber das hat doch damals auch geklappt. Ich fand die Zeit in Berlin damals so toll.
Jan: Berlin war so geil. Schlesische Straße und so.
Leo: Wo Christians Studio auch ist. Das ist ja mittendrin, da wo es abgeht. Nach der zweiten Platte haben wir aber schon gesagt, dass wir danach auch mal woanders hingehen.
Jan: Wir haben auch echt Glück gehabt. Das ist die erste Platte, die auf dem Land entstanden ist. Wir haben da auch richtig gelebt. Jeder hatte da im Studio auch sein Schlafzimmer. Und wenn dann morgens die Amps angingen, dann konnte auch keiner mehr schlafen. Wir haben da echt hart gearbeitet. Aber auch hart gefeiert.
Leo: Steve fragte uns am Anfang auch, ob wir uns wirklich sicher sind, dass wir genau in dieses Studio möchten. Da ist wirklich sonst nichts. Wir waren uns aber absolut sicher, weil wir uns mittlerweile auch derart gut verstehen. Du hast da keine Chance irgendwo hinzugehen. Da war keiner. Du hast halt abends nichts machen können. Fernsehen noch.
Jan: Das war wahnsinnig schön, weil bei denen Fernsehen noch richtiges Entertainment ist.
Leo: Sonntags haben wir dann einen Ausflug gemacht, weil da „Day Off“ war und dann hat Louise - unser Köchin - uns Sandwiches gemacht und dann sind wir ans Meer gefahren und da reingesprungen.
Jan: Es war ja August. Wir waren da ja den ganzen August. Und wenn du da dann in der Nacht auf dem Dorf bist, da gibt es ja nicht dieses Grostadtleuchten, da siehst du noch richtige Sterne von denrn wir da immer singen: Mond und Sterne. Im August dieser Sternschnuppenregen und dazu dann Pink Floyd gehört und wir waren einfach nur total glücklich. Glücklich, dass sich das alles so gefügt hat. Es war auch das erste Mal, dass wir ins Studio sind und hatten alle Lieder schon fertig. Sonst haben wir dann immer noch im Studio geschrieben und diesmal war das alles schon ziemlich konkret. Dieses Jahr waren echt so viele Ideen und Skizzen da - irre eigentlich.
Leo: Wir hatten auch so eine erste Phase, wo wir schon wussten, dass wir einen Produzenten brauchen. Das war im Mai 2011. Wir haben uns dann zum Songschreiben verabredet. Christian und Jan, dann kam ich auch dazu und dann haben wir die meiste Zeit zusammen verbracht. Wir haben uns dann zu fünft verabredet und wir hatten ja jetzt den Namen „Magma“ und in diese Richtung wollten wir weiter forschen. Das ist ja auch so 70er Jahre - rockig, aber auch psychedelisch. Uns war auch klar, dass man irgendwie weiterguckt was das aus uns macht. Im Februar wollten wir dann ins Studio.
Jan: Wir hatten ein sehr schönes Studio in Hamburg reserviert und da aufgenommen...
Leo: Wir haben dann aber festgestellt, dass es das noch nicht war. Wir hatten ja ganz konkrete Vorstellungen wie das klingen soll. Das war aber auch nicht schlimm. Wir haben dann dem Management erklärt was wir wollen. Die hatten da zwar schon so ein komisches Timing, aber man muss sich auch einfach die Freiheit herausnehmen mal Nein zu sagen.
Wolltet ihr damit vielleicht sogar Routinen aufbrechen, die sich jetzt bei dem dritten Werk nach der Reunion vielleicht eingeschlichen hätten?
Leo: Nee, es ging eher um den künstlerischen Anspruch. Wir wissen nach den Jahren einfach genauer was wir wollen – das muss man einfach so sagen. Wir wissen was dazugehört sich eine Atmosphäre zu schaffen in der gute Sache entstehen können. Du brauchst einen Proberaum und du musst verabredet sein. Man trifft sich schon morgens und dann geht man irgendwann zum Essen und hat noch keinen Ton gespielt. Das kann auch passieren. Das ist aber auch nicht schlimm. Es geht darum auch miteinander Zeit zu verbringen. Es muss auch möglich sein, dass einem mal nichts einfällt. Man muss sich so eine Offenheit schaffen, dass auch das Scheitern möglich ist. Wir sind keine Maschinen und können nicht so abliefern, ähm, und man kann das auch mal auf den Alltagsbereich anwenden. Es kann nicht immer alles funktionieren. Wenn man sich dann in unserem Umfeld umguckt, Leute mit normalen Berufen, die sind auch...es wird immer härter. Ganz viele Burnout-Fälle. Um uns herum kippen enorm viele Leute um.
Jan: Und wir kennen das ja von damals. Wir hatten auch einen Burnout im Kollektiv - als dieses Krankheitsbild noch gar nicht benannt war. Und wir sehen das um uns herum und wir wissen ganz genau, der da kriegt den nächsten Burnout, weil der 48 Stunden nur in seinem Job unterwegs ist. So wie wir damals 48 Stunden nur Selig, Selig, Selig waren. Wie so ein gehetztes, verstörtes Tier.
Leo: Genau, du denkst nicht an das Jetzt, sondern nächsten Monat ist ja noch das und das und das.
Jan: Genau, keine Konzentration auf den Moment. Das ist so ungesund.
Bringt das nicht auch die Medienwelt mit sich, in der wir uns alle bewegen.
Jan: Ganz genau! Das hat ganz viel mit dieser Bildschirmwelt zu tun die wir jetzt haben. Wenn du zwischen diesen Bildschirmen und dir bist, dann ist deine Seele weder bei dir noch bei dem Bildschirm. Du bist eigentlich gar nicht real. Da gibt es ja gar keine Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart. Wir haben ja das große Glück als Musiker momentan-sein-zu-müssen. Auch auf der Bühne. Wenn man eine gute Band sein will, dann will man gemeinsam die Welle reiten und dann muss man sehr konzentriert für das Wesentliche sein. Das geht uns allen verloren durch den Bildschirm.
Leo: Eine Bildschirmgesellschaft
Eine Parallele zu „Von Ewigkeit Zu Ewigkeit“ ist mir bei „Magma“ aufgefallen - diese Direktheit. Wie habt ihr im Studio aufgenommen? Manche Abschnitte klingen sehr direkt, fast live. „Danke“ fällt mir da beispielsweise ein.
Leo: Sind sie auch, ja. Wir waren ja in einem Studio, das auch schon ein bisschen älter war. Aber das ist gut, denn heute werden solche Studios ja nicht mehr gebaut wo dann ganze Bands aufnehmen. Man kann ja heute mit Overdubs und so arbeiten. Da reicht ja auch ein kleiner Raum. Wir hatten hier aber eine Kirche, also so eine kleine Kapelle und da haben wir uns aufgebaut und die Mikros hingestellt und dann hat Steve uns aufgenommen. Dann haben wir so gestimmt und mal ein Lied gespielt und dann dachten wir danach geht es los und dann Steve so „Ey Boys, come in, that´s great – i like it“. Wir hatten den Song gerade zum ersten Mal gespielt – First Take.
Jan: Every Album needs the First Take. Wir dann so:“Ey Alter, wir sind fucking Germans, wir müssen das jetzt mindestens 20 Mal nachbearbeiten.“ Er meinte, dann dass wir das gerne machen können, aber den ersten Take letztlich nehmen.
Leo: Und dann wird dir auch klar, dass das eigentlich nicht geht. Man hatte hier einen Verspieler oder so. Steve hat aber so musikalisch gehört und das war für uns eine echte Erleichterung. Wir mussten uns darum nicht kümmern. Daran mussten wir uns erst gewöhnen.
Jan: Oder wie er die Mikrofone teilweise hingestellt hat. Für ihn war das alles ganz normal, für uns aber nicht. Das sind eben die Tricks, die man lernt. Es ist echt ein anderes Land und es war so schön das zu lernen.
Leo: Ab dem Moment, wo wir uns getroffen haben, fühlten wir uns wieder wie eine Band. Das sagte Christian auch noch. Vielleicht liegt es auch daran wenn ein Aussenstehender dabei ist. Im Studio haben wir uns dann endlich wieder wie Musiker gefühlt und man musste nicht noch über Marketing, Kampagnen, VÖ-Termine, Erfolgsdruck nachdenken – das war alles weg. Nur Musik. Es ist ja auch ganz einfach, wir wollen doch einfach nur gute Musik machen.
Jan (lacht)
Leo: Wir haben als Band ja einen guten Sound. Ich weiß nicht, in England ist Musik natürlicher. BBC One. Musik hat da auch einen Platz. Stundenlange Interviews, dann kommt ein Technostück, dann ein Rockstück.
Jan: Und alles ohne Werbung. Total angenehm. Die Medienkultur in England ist total angenehm. Auch Fernsehen. Ich verabscheue eigentlich Fernsehen, aber da hat man mich kaum davon wegbekommen. Die Comedysendungen sind ganz anders als bei uns. Die haben auch wunderschöne Science-Sendungen. Was wir da alles gelernt haben.
Leo: Und dann dieses Olympia.
Jan: Das war der Hammer.
Leo: Da denkt man dann, was ist das bitte für ein Land? Dann kam da John Lennon, The Who und alles und irgendwie haben die das drauf. Wir haben so ein Zipfel erwischt. Was toll ist, ist dieser Humor. Du kommst zum Frühstück und dann lachst du erstmal über irgendeinen Witz. Und dann gibt es auch ganz viele Momente wo man sich selbst auch auf die Schippe nimmt und alles wird dadurch leichter.
Jan: Das Album ist in einer sehr angenehmen und heiteren Atmosphäre entstanden. Das schwingt da irgendwie mit und das hört man der Platte auch an.
Wie lief denn der ganze Songwritingprozess ab? Gab es zuerst die Textideen oder wurde zunächst die Musik ausgearbeitet?
Jan: Du, wir schreiben ja wie es geht. Die meisten Lieder entstehen ja während einer Session.
Ich muss gestehen, dass mich die Offenheit der Texte überrascht hat. „Alles auf einmal“ und „433“ dürfte doch komplett autobiografisch sein, oder?
Jan: Ja, richtig. Aber das ist auch dieses Selbstbewusstsein, was man da hat um solche Musik und Texte machen zu dürfen. Dazu gehört auch ein großes Vertrauen zu der Familie, mit der man unterwegs ist und dass man sich in deren Arme fallen lassen kann. Dann funktioniert das und dann darf man auch solche Songs singen.
Diskutiert ihr über solche Songs mehr als über andere? Immerhin macht ihr euch damit ja auch ein Stück angreifbar und alte Wunden können aufgerissen werden.
Jan: Das stimmt. Ich denke aber, dass unser Kollektiv-Burnout da eine Rolle spielt. Wir kennen das ja alles und wir dürfen darüber singen. Das ist ja kein Scheiß und man hat die Omen gesehen, die in diesem Lied beschrieben werden. Man kann ja auch für andere einen Tipp oder Hinweis geben, die dann vielleicht feststellen, dass es ihnen ähnlich geht. Und dann ist das vielleicht sogar hilfreich. Dann ist es vielleicht sogar unsere Pflicht, dass man es nicht verschweigt – denke ich mal.
„Danke“ ist ja auch ein sehr persönlicher Song...
Jan: Ja, definitiv
...ich frage jetzt gar nicht wer gemeint ist, aber ist das auch Ausdruck des Neuanfangs, dass ihr jetzt gewisse Dinge besser reflektieren könnt?
Jan: Ja genau. Das hat auch mit dem Alter zu tun. Wenn man dann so reflektiert, dann stellt man auch fest, dass man oft nicht Danke gesagt hat. Das betrifft ja auch die Band. Dann hörst du zwischen den Zeilen deinen Namen und dann ist da eine große Dankbarkeit für all die verpassten Chancen auch mal Danke zu sagen. Ich denke aber auch, dass dies viele, viele Menschen – wenn nicht sogar alle – kennen.
Leo: Wir kennen das umgekehrt ja auch. Ich habe über Facebook auch mal eine Nachricht bekommen von jemandem, den ich unterrichtet habe. Und dann hatte die mir erzählt, dass sie so gerne in einer Band spielen würde und dann hatte sie mich bei Selig gesehen und dann war der Weg klar. Solche Geschichten sind einfach so toll – gerade nach so vielen Jahren so eine Nachricht zu bekommen. Es ist auch sehr schön, wenn unsere Fans uns solche Sachen schreiben.
Jan: Ja, das ist so etwas Schönes, denn es ist echt so eine Dankbarkeit. Man will ja auch seine Dankbarkeit zeigen. Das gehört ja auch zum Menschen dazu - so eine radikale Freundlichkeit. Das sind ja auch die guten Seiten des Lebens, die wir vielleicht aufzeigen. Wir als Band haben uns echt gehasst und wir haben wieder zusammengefunden. Wir sind da auch unendlich dankbar dafür und wir sind auch Leute, die jetzt auch wieder darüber reden können und das auch nicht zynisch oder ironisch machen müssen, sondern weil wir das wirklich am eigenen Leib erfahren haben. Liebe und Frieden. Und dann muss man darüber vielleicht sogar reden oder schreiben oder Songs aufnehmen – dies zeigen oder ausdrücken.
Anderes wie „Love & Peace“ oder „Ich Lüge Nie“ befasst sich mit der politischen und gesellschaftlichen Geschichte. Gerade „Love & Peace“ bezieht sich da mehr oder weniger auf die letzten 30 Jahre. Ist es für euch als Künstler, die ja auch immer eine Botschaft transportieren, nicht unglaublich deprimierend zu sehen, dass die Menschheit sich kaum geändert hat?
Leo: Das stimmt nicht ganz. Es gibt ja beispielsweise Fukushima und dann den Atomausstieg, wo man dann sagen kann oh, da ist ja doch was passiert. Es kann ja auch Hoffnung geben. Es gibt da ja auch diese Stelle im Song „wo sind wir jetzt?“. Vielleicht auch so ein Hinweis, dass man es auch beeinflussen kann. Man steht ja nicht so hoffnungslos da und man kann tatsächlich die Welt verändern. Ich finde das jetzt gar nicht so...wie hast du das eben gesagt? Die Menschheit hat sich gar nicht verändert, ne? Es gibt natürlich auch so Dinge wie den Klimagipfel und das ist nun wirklich frustrierend, das ist schon wahr. Ich finde den Atomausstieg auch mutig, muss ich schon sagen. Man hätte das auch billiger haben können, dies ist wieder eine ganz andere Frage. Es ist aber trotzdem ein ganz gutes Zeichen das...oder wir haben mitgekriegt, dass die Mauer gefallen ist. Wir sind ja eine Generation...es ist doch einmalig, dass dies passiert ist. Ohne Blutvergießen. Und dies in unserem Land, das wir das geschafft haben – oder die aus dem Ostteil. Das ist doch einfach irre, dass wir davon Zeuge wurden. Es gibt nicht nur negative Sachen.
Jan: Der Song sagt ja auch aus, dass man sich bewegen soll. Eben nicht so eine Gleichgültigkeit an den Tag legen. Das ist ja schon eine Epidemie die sich da in unserer Welt ausbreitet. Und als wir da im Proberaum diesen Lalala-Teil hatten, wo es noch keinen Text zu gab, sagten alle, ich soll das so lassen. Das ist auch wie so ein Mantra für eine geschundene Welt. Das ist übrigens auch wieder britisch. Wir haben jetzt eine Clubtour gemacht – im Molotov und so – das Album wollte irgendwie raus. Wie dem auch sei, die Reihenfolge die du jetzt auf dem Album hörst, so haben wir das auch live gespielt. Und bei „Love & Peace“ sind wir in die Mitte des Publikums gegangen – Christian und ich – und haben uns wie am Lagerfeuer hingesetzt und es wurde dann ganz leise und dann haben die Leute diesen Lalala-Part gesungen. Wir haben das mit Live-Mikors aufgenommen und das ist gerade in England, also die ganzen Städte mit dem Lalala-Teil werden auf die Platte gemixt.
Leo: Man kann erst jetzt sagen, dass mit diesem Chor das Lied „Love & Peace“ fertig ist. Das war schon immer unsere Vorstellung so etwas zu machen und das war auch super mit diesem Chor.
Jan: Und jetzt sind die eigenen Fans der ersten Stunde dabei. Und dann auch noch Liebe und Friede. Wir finden auch, dass man das nicht verkaufen kann und dann haben wir mit der Plattenfirma geredet, dass wir das Lied verschenken wollen. Und ja, jetzt gibt es den Song umsonst. Das ist dann irgendwie schön.
So schnell verfliegt die Zeit und der letzte Interviewkollege für heute scharrt schon im Hintergrund mit den Hufen. Dabei stehen noch derart viele Fragen auf dem Plan. Nun gut, eine letzte Frage gesteht uns die Promoterin für heute noch zu.
Leo: Noch mal zu „Love & Peace“. Ich dachte da auch, nicht, dass es eine Welt aus Angst ist. Es passiert schon etwas, kann passieren. So eine Art friedliche Revolution. Nicht, dass sich unterschwellig alles in eine Richtung bewegt und alle so ängstlich sind. Angst um den Job, weil es vielleicht einen Konkurrenten in China gibt. Das wäre doch doof.
Das ist doch für Musiker sicher auch ein Thema? Vielleicht nicht gerade für euch als etablierte Künstler, aber neue Bands gucken vielleicht noch mehr darauf was überhaupt funktionieren kann und richten ihren Fokus dann auch eben darauf aus. Gerade auch wenn man von der Musik leben möchte.
Leo: Genau das ist ja der Punkt. Wenn du nicht bei dir bist und sagst „nee, mach ich nicht“. Man muss schon authentisch sein. Darum sind wir vielleicht auch so.
Jan: Du kannst nicht irgendwie nicht, ähm, was tun, was du nicht möchtest. Du kannst nicht irgendwas verkaufen, was du selber nicht gut findest. Unser Maßstab ist immer: schreib das Buch, was du selber gerne lesen möchtest.
Leo: Und wenn wir bestimmte Fernsehsendungen absagen, dann ist das vielleicht doof und auch schlecht für die Kohle oder den Markt, aber wenn wir die selber nicht gut finden, was sollen wir denn da? Aber das nimmt zu, dass die Leute so ängstlich durch die Welt gehen. Ich mache die unbezahlten Überstunden oder ich arbeite die Nacht durch, sonst habe ich meinen Job nicht mehr. Eurokrise. Finanzkrise. Überall nur noch Krise, Krise, Krise. Das wird uns doch so eingeredet. Man muss auch NEIN sagen können. Als wir das Album verschoben haben, hätte uns das natürlich Schwierigkeiten bereiten können. Ich glaube, wir setzten auch alles auf eine Karte und haben bis vor einer Woche überlegt, wie es eigentlich weitergehen soll. Das ist dann auch existentiell, aber weist du, das muss man dann auch riskieren.
Wie kommt man eigentlich auf die Idee, ein Album, das erst Monate später veröffentlicht wird, auf einer Clubtour dem geneigten (kleinen) Publikum vorzustellen? Welche Erkenntnisse kann man aus den kleinen Konzerten ziehen und warum gab es einen Gig für die Hochbahn? Hat die Band da eine besondere Beziehung? Kann es so etwas nur in Hamburg geben oder wäre das in anderen Städten auch vorstellbar?
Jan: In Hamburg gibt es einen guten Radiosender, mehr gibt es da nicht. Das ist 91,7 XFM. Die hatten uns gefragt, ob wir für die spielen und die Hochbahn und so. Die haben natürlich auch gesagt, dass die uns komplett supporten und so. Das ist dann so ein Tausch gewesen. Es ist aber insbesondere auch irre. Da wird so eine U-Bahn eingeweiht – ich meine, das war echt schräg. Wir standen dann da auf der Bühne und dann kamen zwei U-Bahnen an, 350 Leute sind ausgestiegen, wir kamen die Treppen runter und haben losgelegt und als das Konzert vorbei war sind die wieder in die U-Bahnen gestiegen und wieder weggefahren. Wir waren dann wieder ganz alleine. In vielen, vielen Jahren, wenn unsere Kinder vielleicht studieren – da ist ja auch bei der Universität – dann können die sagen, dass der Papa das Ding eingeweiht hat. Das wird dann auch so eine Geschichte, wo die Kinder dann vermutlich sagen, dass man nicht schon wieder die Geschichte erzählen soll. Das ist interessant so eine Erfahrung zu machen. Eine Art Lebensgeschichte.
Leo: Diese Clubtour. Nein, anders: wir haben gesagt, wir nennen uns Magma.
Jan: Genau, wir nennen uns Magma und die erste Platte dann „Selig“.
Leo: Genau, und wir spielen dann eine Clubtour unter diesem Namen. Und wir haben das dann auch tatsächlich ernsthaft der Konzertagentur gesagt und so weiter. Wir haben dann diskutiert - alles durch. Es geht dann wirklich um die Musik in diesem Moment. Dann haben wir das Album gespielt und die Leute kannten das ja nicht. Dieses Zuhören ist so toll und das ist dann wirklich eine andere Geschichte. Für uns ja auch. Wir spielten ja was, was keiner kennt. Das erste Mal! Jungfräulich.
Jan: Das erste Mal, dass "Magma" zur Welt gekommen ist.
Leo: Und eben nicht virtuell oder mit Snippets und wenn das Album kommt, dann kennst du schon alles. Nein, das war das Album, an dem wir 1 ½ Jahre gearbeitet haben und das war dann wie so eine Theaterpremiere in Echtzeit. Das war toll und das hat Spaß gemacht. Das ist ja auch eigentlich unsere Wurzel, denn da kommen wir her. Und als wir dann im Kiez gespielt haben und im Molotov, das war echt toll. Unser Tontechniker, der Micha, hat dann gefragt, ob wir wirklich da spielen müssen, die Anlage da wäre echt Mist. Doch, doch, doch, wir wollen das! Das ist klein und das ist auf der Reeperbahn und das sind unsere Wurzeln – da kommen wir her. Das war toll da wieder hinzugehen und da wir ja jetzt 20jähriges haben, sind wir, wenn wir großzügig sind, wieder 20!
Dann sage ich herzlichen Glückwunsch und bedanke mich für das offene Gespräch!
Leo: Wir haben zu danken.
Jan: Genau, wir danken dir.
Wenn es in diesem Turnus weitergeht, treffen wir uns in zwei Jahren zum nächsten Interview wieder!
http://www.selig.eu/landingpages/magma/
(Torsten Schlimbach bedankt sich für die freundliche Unterstützung bei Isabel Sihler, Alexandra Dörrie, Universal und natürlich bei Selig!)
Montag. Köln. Es regnet. Mal wieder. Vielleicht die perfekte Wetterlage um mit Christian Neander und Jan Plewka von Selig zu sprechen. Selig sind neben allen Rockstarattributen ganz tief in ihren Herzen Romantiker und Melancholiker und dazu passt der Regen wie die Faust auf das Auge. Es gibt sowieso viel zu besprechen, schließlich steht ein neues Album in den Startlöchern. Die beiden entpuppen sich dabei als äußerst angenehme Zeitgenossen und Gesprächspartner.
Hallo, vielen Dank für eure Zeit! Wie sieht eure Gefühlslage vor eurem neuen Album aus? Ist die anders als bei “Und Endlich Unendlich”?
Jan: „Und Endlich Unendlich“ ist zu einer Zeit rausgekommen als nicht so viel los war auf dem Plattenmarkt. Das hört sich jetzt vielleicht komisch an, aber das ist für diese Art von Chartseinstieg – wir hatten gerade eben noch darüber geredet – schwer. Wir haben jetzt sehr viel Konkurrenz mit Linkin Park, der gute Phil, Phil Collins und auch sonst gibt es eine Menge. Wir sind ja fünf Leute in der Band und die letzte Platte hatte einen Chartseinstieg auf Platz fünf und jeder von uns hat einen Freudensprung gemacht, wo auch immer er gerade war. So hoch waren wir noch nie in den Charts und wir sind jetzt eigentlich – was die Charts betrifft – berühmter als in den 90ern. Dieses Jahr wird das wahrscheinlich nicht passieren. Aber natürlich wissen wir es nicht.
Christian: Das ist immer so beknackt, aber kurz vorm Album-Release ist das immer so ein Lotto. „Hey, mal gucken was das Lotto so macht“. Wir sind gerade wahnsinnig stolz auf dieses Album und tatsächlich sind wir irgendwie weiter gekommen als sonst. Das erste Reunion-Album war so total euphorisch im Sommer, so „Hurra, wir haben uns wieder“ und jetzt sind wir schon angekommen und haben ganz viel erlebt zusammen und haben uns auch ganz viel Zeit beim Aufnehmen gelassen. Geschrieben, wieder aufgenommen und durch das Vertrauen, was wieder da ist, das Gefühl, dass wir sehr zufrieden sind. Und da ist dann so eine Spannung, wie die Leute das Album wohl finden.
Jan: Auf diesem Album hört man auch, dass wir eine eingespielte – musikalisch und menschlich eingespielte – Band sind.
Sind eure Erwartungen “Von Ewigkeit Zu Ewigkeit” automatisch größer? Letztes Jahr wusstet ihr ja nicht, was auf euch zukommt. Jetzt ist klar, dass ihr auf eine große Fanbasis bauen könnt´.
Christian: Also eigentlich Erwartungen, hm, ich fände es toll, wenn viele Leute das Album mitkriegen, weil ich es selber so toll finde. Klar, das ist so ein Standardsatz, aber
gerade diesmal finde ich es besonders so. Die Erwartungen sind eher so unklar. Eher so mal gucken was passiert. Es wäre schön, wenn Menschen das mitkriegen. Wir freuen uns natürlich auch über
Feedback. Wir haben das unserem alten Manager vorgespielt und er „Oh, das ist aber toll“ – all´ so Sachen und das ist irgendwie schön.
Beim letzten Mal war das ja auch eher so ein Sprung in das kalte Wasser.
Christian: Voll! Auf jeden Fall.
Wart ihr denn selber von dem immensen Feedback überrascht?
Christian: Gehofft hatten wir das schon, aber letztlich waren wir von dem großen Feedback total überrascht.
Jan: Ich sehe diesem Album sehr gelassen entgegen. Ich glaube auch nicht, dass dies so ein Schnellschuss ist und dies viele Leute kaufen. Das hat so viele psychedelische Momente und Verschrobenheiten und Subtexte, die sich erst nach einer Zeit entfalten und ausbreiten werden. Ich glaube, dieses Album braucht Zeit, über Jahre hinaus. Ich glaube, dass dieses Album sogar ein Evergreen ist.
Wann habt ihr denn die Zeit gefunden zwischen den ganzen Aktivitäten rund um “Und Endlich Unendlich” neue Songs zu schreiben und aufzunehmen? Und wann war euch klar, dass ihr so schnell ein neues Album veröffentlichen wollt´?
Christian: Ähm, wir haben ja so viel gespielt letztes Jahr und da staut sich ja ganz viel Erlebtes an und es war ja schon immer so, dass wir so ganz komische Zeitdokumente machen. Wie wir uns fühlen und so. Wir haben bis Ende letzten Jahres gespielt, also noch so ein paar vereinzelte Konzerte und dann haben wir alle Pause gemacht: Weihnachten, Familie und Urlaub und ja, dann haben wir am 18. Januar angefangen und es brannte auf der Seele. Trotzdem hatten wir das Gefühl, dass wir so Sachen wie Pause machen. Am 18. Januar haben wir angefangen zu schreiben und sind dann ziemlich schnell ins Studio gegangen und haben immer wieder aufgenommen, sind nach Hamburg gegangen und haben im Studio auch Sachen geschrieben. Wir waren ziemlich lange zugange da, auch wenn es jetzt von außen nicht so aussieht. Von außen betrachtet sieht das sicher schnell aus, aber uns kam es gar nicht so vor.
Wurden Teile von “Von Ewigkeit zu Ewigkeit” eigentlich direkt live im Studio eingespielt? “Freier Fall” verbreitet z.B. so ein Livegefühl.
Christian: Also fast alle Songs haben die Basis eines Livesongs. Der Jam ist natürlich komplett – Overdubs natürlich, aber fast alle Songs haben diese Basics. Bass, Schlagzeug,
Gitarre, auch ab und zu der Gesangstext. Das ist schön zu hören bei „Wirklich gute Zeit“ mit der First-Take Mundharmonika von Jan. Wir haben ab und zu natürlich gebastelt, aber alle Songs haben
dieses Livegefühl.
Ich vermute mal Langeweile habt ihr in den letzten zwei Jahren nicht unbedingt gehabt. Wie kommt man dann auf eine Zeile wie “ich bin unendlich gelangweilt vom gelangweilt sein” aus “Hol Mich
Hier Raus”?
Jan: Du, Langeweile gibt es überall. Auch im wilden Leben gibt es Langeweile und die ist meistens dann sehr extrem. Das ist dann so gähnende Langeweile. Das ist dann aber auch etwas, woher man seine Inspiration holt. Also ich kenne das noch als ich Kind war, diese Sonntagnachmittage, man ist bei Oma, draußen hat es geregnet, der ganze Nippes, der auf den Blumenkästen steht, Kaffee aus der Kanne und das ist die Urform von Langeweile und das ist der Grund warum man Bands gründet und warum man dem zu entfliehen versucht. Das ist auch so ein Grundstoff von Musik und ein Antrieb wo man bloß nie wieder hin will. Wenn man den Blick dafür nicht verloren hat, dann gibt es diese Langeweile immer noch und überall.
Christian: Auch so ein Videodreh. Da wartet man den ganzen Tag, dass etwas passiert, aber es passiert eben nichts. Auch auf Tour gibt es diese Phasen, wo man in so einem Zwischenstadion ist. Eigentlich will man gerade Englisch lernen und man hat ehrenhafte Pläne, kriegt aber eigentlich gerade gar nicht gebacken.
Jan: Und es gibt auch diese dekadente Langeweile. Weißt Du, so Leute, die sehr viel verdienen – so Werber und Filmer – und wenn du die dann so siehst, beim Essen oder in Länder,
triffst du die in Rio de Janeiro und die sind einfach gelangweilt, weil es zu deren Alltag geworden ist, dieses Reisen und dieses Geld. Man sollte immer aufpassen, dass man in einem Strohschuppen
schläft oder in einem fünf Sterne Hotel, dass man beiden Sachen eine gewisse Lebensqualität abgewinnen kann.
In guten Zeiten dann auch an die schlechten denken und umgekehrt, dass man das eben immer in der Mitte hat. Langeweile kann sehr inspirierend sein.
Denkt man da im Studio auch schon an die Liveumsetzung, gerade „Hol Mich Hier Raus“ ist ja wie für die Bühne gemacht?
Jan: Ja gerade auf diesen Song trifft das tatsächlich zu. Die Liveperformance war dabei eigentlich eher da als der Song. Wir waren im Proberaum und dann „Hey, lasst mal ein Lied für
die Tanzfläche schreiben“. Wir haben uns gefragt, wozu würden wir auf die Tanzfläche stürmen. Stoppel hat dann mit dem Groove angefangen und dann ging das halt los und das Lied war geboren.
Christian: Es ist überhaupt jetzt so, dass wir uns bei dieser Platte extrem freuen die live zu spielen. Wir fangen jetzt am 1. November an zu proben, so richtig für die Tour.
Teile des Albums sind ungemein rockig, ich denke da an das schon erwähnte “Hol Mich Hier Raus”, “Tausend Türen” oder “Dramaqueen”. Hat sich das eher intuitiv so ergeben oder habt ihr bewusst auch diese härtere Gangart verfolgt?
Christian: Gar nicht! Wir sind immer sehr intuitiv. Ich glaube, das hat immer damit zu tun, dass wir uns jetzt wieder mehr vertrauen. Wir sind jetzt unserer sicher. Wir haben das erste Jahr überstanden und jetzt kann man noch mehr loslassen. Das ist uns auch gar nicht so bewusst, sondern eher ein Analysieren im Nachhinein. Es ist insgesamt extremer als die Erste. Wir sind auch weiter gegangen als bei der letzten Platte. Das hat einfach total Bock gemacht.
Inwiefern weiter gegangen? Mehr in die Nischen, mehr musikalisch ausgelotet?
Christian: Ich glaube, wenn man im Gespräch ist mit dem jenigen zu dem man einen Draht hat – nach einem Jahr hat man ja auch viel gemeinsam unternommen- dann ergibt sich so eine
Selbstverständlichkeit und man bespricht die Sachen dann einfach. So ist das vielleicht auch musikalisch zu verstehen.
Ihr sprecht jetzt immer von einem Jahr, aber ihr kanntet euch ja nun schon sehr lange Zeit. Ist dann nicht auch direkt wieder eine Verbindung da?
Christian: Ja, das stimmt! Allerdings ist in den zehn Jahren ja auch viel passiert und jeder hat unterschiedliche Sachen erlebt. Das ist dann jemand sehr bekanntes, den man neu kennenlernt ohne den ganzen Wahnsinn von früher. Das ist dann schon sehr hilfreich.
Mit dem schönen und leichtfüßigen “Wirklich gute Zeit” habt ihr eine Art Folksong aufgenommen. Die Mundharmonika verleiht der Nummer sogar einen kleinen Dylan-Moment. Wie kam es zu diesem Song?
Jan: Ähm, auch im Proberaum. Ich meinte, dass ich auch mal Lust auf so ein Lied hätte. Das war auch schon auf der Tour so. „Lasst uns das machen“. Das haben wir dann auch gemacht und der Studio-Assistent hat mir unter der Hand heimlich eine Mundharmonika gegeben, weil ich dem gesagt hatte, dass er mir eben eine Mundharmonika besorgen soll. Christian war konspirativ eingeweiht. Und dann hat er mir diese Mundharmonika gebracht, ich habe gespielt und dann meinten alle, dass wir das so lassen. Das ist wirklich First-Take. Ich war bis zum Schluss gespannt, ob das drauf gelassen wird, aber es ist tatsächlich jetzt so drauf. Es war eine sehr große Erfahrung.
Christian: Auch für mich. Ich hasse Mundharmonika. Ich bin eingefleischter Mundharmonikahasser. Aber das passt so gut zu dem Song, dass wir es einfach drauf gelassen haben. Wie viele Sachen bei uns hat es seine Berechtigung und es ist einfach total schön.
Jan: Da war dann auch endlich mal ein Lied da, wie ich es mir gedacht habe und dann hatte ich keinen Text dafür. Ich habe da echt geblutet. Was soll ich darauf singen und so? Ich hatte teilweise schon gedacht, dass es der Song nicht auf das Album schaffen würde, weil es dafür keinen Text gibt.
Christian: Wir haben Jan immer mit „Lass Dir Zeit, lass Dir Zeit“ beruhigt.
Jan: Genau, aber mir fiel einfach nichts ein dafür und dann ist so eine Geschichte passiert, wo ich dachte, dies wäre es und dann ging das innerhalb von zehn Minuten und am nächsten Tag habe ich das eingesungen.
“Ich bin kein Gott mehr” ist ziemlich ungewöhnlich, von der Instrumentierung bis zum Gesang und dann die letzten Worte “es gibt mich nicht mehr”. Ist das die Ursprungsversion und wenn ja,
gab es keine Ambitionen dieses Stück länger auszubauen?
Jan: Wie schön ist das, dass du so einen intensiven Text hast und so ein kurzes Lied?! Das unterstützt diese Situation. Man muss sich das vorstellen: da sitzt ein Pärchen zusammen
und er sieht in ihrem Gesicht „Das war es. Es ist vorbei. Ich bin kein Gott mehr für Dich“. Er ist enttäuscht. Das ist im Grunde ein Lied über Enttäuschung. Nicht die Enttäuschung von jemand anders,
sondern wenn du von dir selber enttäuscht bist. Und das dann so kurz und knapp zu halten ist wie ein Extra-Stich.
Christian: Das war natürlich auch ein großes Thema, wie es dann weitergeht und ob ein Refrain kommt. Aber irgendwie, nee, ich bin sehr glücklich wie das jetzt endet. Ich mag das auch sehr gern, weil das sehr schön und melodisch ist und man denkt, dass jetzt der Refrain kommt und dann ist da nur dieser heftige Stopp.
Wo holt ihr denn die Inspiartion für solche Texte? Sind die autobiografisch oder Fiktion? Oder eine Mischung aus beidem?
Jan: Ja, das ist eine Mischung aus allem Drum und Dran. Ich bin keiner, der über Dinge schreibt, die er noch nie erlebt hat. Ich denke, dass diese Platte da auch weitergeht als „Und Endlich Unendlich“. Eine Reflexion auf die Jahre nach Selig, die Trennungsjahre. Das war eine Wiedersehensplatte. Dies jetzt ist so eine selige Essenz. Wir waren zum Schluss ja auch echt arrogant. So „hey wir nehmen gerade in New York!“ auf. So der freie Fall, aber jetzt kann man darüber auch singen.
Christian: Wir hatten vor der Trennung – auch wir beide hier – sehr, sehr dunkle Nächte in Hamburg gehabt, das war schon echt übel. Das findet dann auch jetzt in „Tausend Türen“ wieder statt. Das ist gut, dass man das jetzt machen kann. Ich glaube, das wäre bei der ersten Platte nicht gegangen. Da war das alles so zart. Wiedersehensfreude.
Jan: Mhm, so ein Antasten. Jetzt ist so ein Urvertrauen wieder da. Das hat die Platte dann auch extremer gemacht – das Folkige und Balladige oder eben auch diese Rocksparte. Es gibt mehr so eine Bandbreite.
An wen ist das traurige “Du fährst zu schnell” gerichtet?
Jan: An alle, die mal Schluss gemacht haben mit irgendeiner Beziehung. Das ist wie sterben. An alle die das eben kennen.
Ich finde dieses Stück sehr persönlich…
Jan:…ja das soll auch sehr persönlich sein. Man kennt das ja, wenn Schluss ist, dann ist das wie sterben. Man bräuchte eigentlich einen guten Freund oder Bodyguard, der auf einen aufpasst oder die Familie. Das ist diese gefährliche Gratwanderung. Dieses Lied hat ja auch keinen Refrain, sondern geht wie ein Film durch. Das ist dieser fiese Moment. Schau dich nicht um, wie in der Bibel, die nicht zurückblicken sollen, weil sie sonst zur Salzsäure erstarren.
Christian: Ich hatte so ein Erlebnis nach einer schlimmen Trennung. Ich hatte zwei Tage, da bin ich einfach über die Straße und habe nicht geguckt, mir war da alles egal. Ich war da so krass drauf, dieses Leben einfach so weggeschmissen. Da hat dann ein guter Freund aufgepasst. Man kennt das ja, wo das Leben nicht mehr lebenswert ist. Deswegen auch kein Refrain. Wir haben geguckt, ob es da einen passenden geben würde, aber den Refrain dafür gibt es nicht. Es ist einfach eine Scheißphase die man durchmacht.
Spiegelt das auch ein bisschen das Ende damals von Selig wieder?
Jan: Ja, das kannste nehmen. Das war ein ganz großer Bruch, wo einem der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Und man war offen für alles. Mir war alles egal. Das war die Zeit, wo man anfing Geister zu sehen. Das war die Zeit, wo der Wahnsinn Einzug gehalten hat. Ja und jetzt kann man darüber singen. Wahrscheinlich hast Du Recht, dass diese Trennung bei diesem Album unterbewusst auch mit da reinspielt.
Beim ersten Album nach der Reunion habt ihr solche Themen ja nicht verarbeitet. War das bewusst so gewählt? Wolltet ihr euch da noch nicht heran trauen?
Jan: Nee, das war so (singt) „Wir werden uns wiedersehen“. Das war jetzt auch nicht nur Halligalli, sondern mit so einer melancholischen Selig-Art.
Christian: So könnte man das beschreiben, stimmt.
Wo Du gerade Melancholie erwähnst. Seid ihr Melancholiker? Eure Songs strahlen so eine gewisse Traurigkeit und Melancholie aus.
Jan: Das rührt alles von einer inneren Einsamkeit her, die man irgendwann erfahren hat. Ich glaube, dies ist wie die Langeweile auch eine Inspiration für Musik.
“Ich hoffe es hat noch Zeit” mündet in einen jamartigen Schluss, war das so geplant oder habt ihr euch im Studio von der Musik treiben lassen?
Christian: Auch wieder ein totales Beispiel für diese intuitive Sachen. Leo fing an zu spielen und ja, ich dachte dann, dann spielen wir eben weiter. Das geht in Sekundenbruchteilen,
dass irgendwas passiert, was unbedingt sein muss. Das ist sehr intuitiv entstanden, weil es wahrscheinlich danach verlangt hat. Das ist auch eine besondere Qualität, dass diese Band das dann auch
zulassen kann. Ich liebe dieses Outro.
Ist der Song von den Beatles beeinflusst? Hat so ein bisschen von “Strawberry Fields Forever”.
Jan: Ja, die sind ja immer da. Die Beatles, Led Zeppelin, die Chili Peppers. Wir verbergen unsere Idole und Inspirationen ja nicht. Das war damals auch anders. Hätte uns da einer gesagt, dass wir nach den Red Hot Chili Peppers klingen, dann hätten wir daran noch rumgedoktert. Wir sind uns unserem eigenen Sound auch so bewusst, dass wir das nicht mehr müssen.
Definitiv! Unabhängig von Deinem markanten Gesang behaupte ich mal, dass Leute, die Selig kennen und dann von euch einen neuen Song ohne Gesang hören würden, dieses Stück auch sofort als Selig erkennen würden. Gitarre und Rhythmus ist doch sehr markant bei euch.
Christian: Das ist auch so ein großes Glück und ich glaube, das gelingt nur in dieser Konstellation. Da bin ich extrem dankbar für, dass man eine Identität hat, der man auch nicht nachlaufen muss.
Jan: Wir haben es heute da in gewisser Weise auch leichter als damals. Da war das so in der Reto-Grunge-Szene und da hieß es dann immer „das klingt ja wie Nirvana, Lenny Kravitz“ und so. Heutzutage sagt das keiner mehr, da sagen dann alle, dass es nach Selig klingt. Die Zeit ist auf unserer Seite.
Als ihr Selig erstmals beendet oder auf Eis gelegt habt, war das Musikgeschäft ja noch komplett anders. Gerade durch das Internet hat sich selbiges enorm gewandelt, wie seht ihr diese Entwicklung?
Jan: Ich finde das gut. Wie alles eben, positiv und negativ. Aber ich finde, die musikalische Welt wird bunter. Es gibt so viel Zeug, das ich ohne das nicht entdeckt hätte. Was ich nicht gut finde sind die ganzen Bildschirme, ich nenne das immer Screens. Jeder guckt ja nur noch auf so Dinger. Wenn wir früher aus der Kneipe kamen und das Hotel nicht mehr gefunden haben, dann haben wir einfach nach dem Weg gefragt. So was macht man heute gar nicht mehr.
Christian: Was ein bisschen schade ist, dass Alben nicht mehr als solche wahrgenommen werden. Heute zählt ja nur noch der Song und die Leute laden sich dann auch nur noch den runter. Wir haben aber jetzt wieder versucht ein Album zu machen…
Jan:….so eine Art Konzeptalbum ohne Konzept.
Ihr macht ja auch beim Bundesvision Songcontest von Stefan Raab mit. Was erwartet ihr euch davon – außer Hamburg als Sieger?
Jan (lacht): Ich will gar nicht, dass Hamburg gewinnt.
Christian: Wir werden sehr aufgeregt sein und natürlich wollen wir Spaß haben.
Jan: Vielleicht können wir Alten ja auch eine Art Pate für die jungen Bands sein. Und ich meine, wo kann man sonst noch im Fernsehen live auftreten? Wo wäre die Musik im deutschen Fernsehen denn ohne Stefan Raab? Da wäre nichts. Und der kümmert sich ja auch immer um unbekannte Bands.
Christian: Und man muss einfach sagen, dass die Leute von Brainpool wahnsinnig nett und familiär sind, so völlig fernsehuntypisch. Und ich bin froh, dass wir mit dem Song „Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ auftreten werden, weil mir das Lied einfach viel bedeutet.
Es steht ja auch eine Selig-Tour an, was erwartet die Fans? Stellt ihr auch eure Setlist jeden Abend ein bisschen um?
Christian: Nein, eigentlich nicht. Wenn sich das bewährt hat, dann nimmt man das auch nicht mehr auseinander. Bei der letzten Tour haben wir bei den ersten Konzerten noch ein bisschen experimentiert, aber dann auch ein gutes Set gefunden. Wir werden auf dieser Tour sehr viel von der neuen Platte spielen. Natürlich auch alte Songs und welche von „Und Endlich Unendlich“, aber sehr viel von der neuen Platte.
Wie seht ihr die Zukunft von Selig?
Jan: Ich sehe uns nach einem Winter, auf der Schwelle zum Frühling – es liegt noch ein bisschen Schnee – auf einer Berghütte mit unseren Familien zusammensitzen und eine schöne Zeit haben. Ich fände dies eine sehr, sehr schöne Vorstellung.
Christian: Ich auch!
Und was funktioniert bei Selig nun besser wie früher?
Jan: Man lernt mit dem Macken des anderen zu leben. Wir sind ja auch erwachsener geworden. So bis 27 will man noch alles und jeden verändern, aber nicht mehr heute.
Christian: Wir respektieren uns und haben wieder dieses Urvertrauen. Das war ja alles weg und wenn ich da an damals denke, dann war ich schon ziemlich arrogant. Vielleicht habe ich
das charmant verpackt, aber ich war schon sehr arrogant. Dann kommen so Dinge wie Kinder dazu und man hat plötzlich einen anderen Blickwinkel, die Werte verschieben sich auch. Und auch, wenn man
vielleicht manchmal angenervt ist, lernt man doch, den anderen nicht mehr ändern zu wollen.
Jan: Das Schöne heute ist ja auch, wenn wir gleich in den Flieger steigen, Christian nach Berlin, ich nach Hamburg, dann sind wir nur noch Christian Neander und Jan Plewka und so
fühlen wir uns dann auch. Das ist schön, denn dies wäre früher auch nicht so gewesen, da wäre jeder einzelne immer noch Selig gewesen.
Ich bedanke mich für das offene Gespräch!
Jan: Wir bedanken uns bei Dir.
http://www.selig.eu/landingpages/von-ewigkeit-zu-ewigkeit/index.php?v=2
(Torsten Schlimbach bedankt sich für die freundliche Unterstützung bei Isabel Sihler, Universal (besonders bei David Kupetz für den unermüdlichen Einsatz vor Ort) und natürlich bei
Selig!)