Billy Bragg & Wilco: Mermaid Avenue – the complete sessions (3CD/DVD)
nonesuch/Warner
VÖ: 20.04.2012
Wertung: 11/12
Tipp!
Es gibt viele Projekte und Alben zu Ehren eines alten Haudegen der Musikgeschichte. Tribute pflastern mittlerweile die CD-Regale und werden in schöner Regelmäßigkeit veröffentlicht. Manches mag sinnvoll sein, anderes komplett unnötig, aber was Billy Bragg & Wilco auf die Beine gestellt haben ist einzigartig. „Mermaid Avenue“ ist in gewisser Weise Neuland gewesen. Die Vergangenheitsform ist hier durchaus beabsichtigt, denn dieses ganze Projekt entstand schon in den 90ern.
Im Juli dieses Jahres hätte einer der allergrößten und prägendsten amerikanischen Künstler überhaupt seinen 100. Geburtstag gefeiert. Die Rede ist von Woody Guthrie. Sein Einfluss ist nicht zu unterschätzen und egal ob es die alten Recken der 60er sind oder die heutige Indiefraktion, der musikalische Arm von Guthrie ist bei den unterschiedlichsten Künstlern deutlich hörbar. Im Alter von 55 Jahren starb der Protestsänger und hinterließ eine große Anzahl an unvollendeten Songs. Diese hatten seinerzeit schon teilweise zwanzig Jahre auf dem Buckel. Aufgrund eines schlimmen Nervenleidens konnte er seine Tracks nicht mehr aufnehmen.
Nach dem Tod von Guthrie gerieten die Songs in Vergessenheit. Nur seine Tochter Nora Guthrie kannte noch den Umfang, denn sie hielt diese unter Verschluss. Erst zu Beginn der 90er befand sie den britischen Musiker Billy Bragg für würdig genug, sich diesen anzunehmen. Bragg wiederum kontaktierte Jeff Tweedy und Wilco und machte sich mit seinen Mitstreitern ans Werk. Einfach dürfte dieses Vorhaben sicher nicht gewesen sein, denn immerhin konnten sie auf eine Hinterlassenschaft von 1.000 Songtexten zurückgreifen. Die Musik war auch nur in Fragmenten fertig – wenn überhaupt!
„Mermaid Avenue“ war schließlich das Ergebnis. Ein zweites Album folgte ebenfalls. Beide wurden von Fans und Kritikern in den höchsten Tönen gelobt. Jetzt gibt es ein umfangreiches Set, welches die Zusammenarbeit von Bragg und Wilco dokumentiert. Als Kernstück entpuppt sich die Dokumentation „Man In The Sand“von 1999. Diese DVD ist allerdings keine reine Hommage an Woody Guthrie. Gleichwohl führt einen Nora Guthrie durch die anderthalb Stunden. Zunächst ist man auf einer Art Spurensuche von Billy Bragg dabei. Der Brite sucht die historischen Orte auf und sammelt ebenso O-Töne von Zeitzeugen. Es geht von Texas nach New York und wie es sich für diese Dokumentation gehört, spielen Eisenbahnschienen immer wieder eine Rolle.
Danach gibt es einen Schnitt und man findet sich plötzlich in den wunderbaren Rehearsals mit Wilco wieder. Schwarzweiß ist ein filmisches Element, welches atmosphärisch diesem Projekt an dieser Stelle auf wunderbare Art und Weise den entsprechend starken Ausdruck verleiht. Man sieht den jungen Tweedy und seine Band – der vor drei Jahren verstorbene Jay Bennett ist noch mit von der Partie – höchst konzentriert arbeiten, sich aber auch auf witzige Art und Weise mit Bragg die Bälle zuspielen. Schließlich landet man in Dublin. Hier wurde überraschenderweise das „Mermaid Avenue“ eingespielt und eben nicht in einer Baumwollhütte oder einer Eisenbahnstation der USA. Klischees sind eben dazu da um durchbrochen zu werden. Die Aufnahmen mit Natalie Merchant dürfen natürlich auch nicht fehlen. Als kleiner Höhepunkt entpuppt sich der gemeinsame Liveauftritt von Wilco und Bragg ganz zum Schluss.
Die Musik, die aus dieser Zusammenarbeit hervorging, ist teilweise sensationell. Das erste Album - „Mermaid Avenue“ - wurde 1998 nicht umsonst in der Kategorie „Best Contemporary Folk Album“ für den Grammy nominiert. Dass man hier noch den Nachhall von Uncle Tupelo hört verwundert ja nicht weiter, aber ebenso ist dieses Country/Folk-Rock(!) Album auch Dylan, Gram Parson, Johnny Cash und Hank Williams – mit Texten von Woody Guthrie. Hier zeigt sich auch die große Stärke von Guthrie. Der Mann mag ein politischer Protestler gewesen sein, aber ebenso legte er die Finger immer in die Wunden der Menschen und entpuppte sich als moralische Instanz seiner Landsleute.
Wilco und Billy Bragg machen musikalisch keinen glückseligen Allerweltsfolk. Die Stilmittel mögen zwar einfacher Natur sein, aber trotzdem durchweht die Songs eine raue und rohe Ästhetik, die auch mal wehtun kann. Woody Guthrie dürfte diese Umsetzung (hoffentlich) lieben! Schon der Auftakt mit „Walt Whitman´s Niece“ stellt unmissverständlich klar, dass es auch mal rumpeln darf. Oder nehmen wir „Christ For President“, die Handschrift von Tweedy ist unverkennbar. Die Musiker versuchen auch garnicht erst sich von ihrem ureigenen Sound zu entfernen. Genau dies ist der Grund, warum etwas ganz Großes entstanden ist. Songs wie „California Stars“ oder der berührende Schlussakkord mit „The Unwelcome Guest“ gehen dabei zu Herzen. „Mermaid Avenue“ ist ein zeitloses Album und gleichzeitig auch eines der besten des Jahres 1998!
Wer sich übrigens fragt, wie der Bezug vom Albumtitel zu Guthrie herzuleiten ist, dem sei gesagt, dass sich nach dem zweiten Weltkrieg dort die Heimat des guten Woody befand. So war es nur konsequent, dass Bragg und Wilco die zweite Runde eben schlicht „Mermaid Avenue Vol. 2“ betitelten. Die Fortsetzung spiegelt nun noch mehr die zwei Welten von Bragg und Wilco wieder. Während der Brite meist mehr im Sinne der alten Singer/Songwriter Tradition die Stücke umgesetzt hat, orientieren sich Wilco vermehrt an ihrem Country/Folk-Rock. Dadurch bleibt es auf „Mermaid Avenue Vol. 2“ immer spannend und abwechslungsreich. Die Texte von Woody Guthrie dürften so noch mal einem ganz neuen (Indie-)Publikm näher gebracht worden sein. Gut so! Traumwandlerisch sicher schütteln die Musiker die Songs aus dem Ärmel und mal ehrlich, „Stetson Kennedy“, „Remember The Mountain Bed“ und „Blood Of The Lamb“ zählen zum Besten, was das Genre in den 90ern hervorgebracht hat. Das eher sanfte „I Was Born“ oder das rockige „All You Fascists“ unterstreichen die große Bandbreite.
Das neuerliche Set enthält nun die dritte Runde. Klar, das Überraschungsmoment ist jetzt weg, aber wenn Corey Harris das bluesige „Gotta Work“ wie ein Voodoopriester aus den Sümpfen intoniert, kriegt man auch hier eine Gänsehaut. Ganz groß! Es ist abermals eine Ohrenweide, wie leicht Songs wie „Bugeye Jim“ oder „When The Roses Bloom Again“ aus dem Ärmel geschüttelt werden. Und wie der Brite Billy Bragg mit „My Thirty Thousand“ voll in die amerikanische Musikseele trifft, muss man einfach gehört haben. Das melancholische „Ought To Be Satisfied Now“ - mit diesem rockig und bluesig angehauchten Grundthema - hat der Mann ebenfalls perfekt in Szene gesetzt. Schön an dieser Geschichte ist immer wieder, dass man hier hört, dass die Protagonisten mit Herz und Seele bei der Sache sind! Dass Tweedy einer der besten Melodienschreiber seiner Generation ist, unterstreicht er mit „Listening To The Wind That Blows“ oder „Ain´ta Gonna Grieve“ (was würde Guthrie wohl zu dieser Umsetzung sagen?). Keiner kann zudem so lakonisch singen wie er. Aber auch Corey Harris ist eine Bereicherung, denn auch das entspannte „Tea Bag Blues“ unterstreicht dies dick und fett. Somit ist auch die dritte Runde keineswegs eine Enttäuschung und „Mermaid Avenue“ wird somit sehr stilvoll beendet – zunächst jedenfalls.
Fazit: Nora Guthrie wird schon gewusst haben, warum sie Billy Bragg die Texte und Skizzen ihres Vaters anvertraut hat. Der Brite stand und steht nicht nur aufgrund seiner Haltung ihrem Vater sehr nahe. Dass dieser wiederum Wilco mit ins Boot holte, war einer der besten Ideen der letzten zwanzig Jahre. Was die Herren auf den drei „Mermaid Avenue“ Alben veranstalten ist die ganz große Musikerkunst aus Folk, Country, Singer/Songwriter und Indierock. Natürlich immer in einem Gewand, welches den Songs von Woody Guthrie gerecht wird. Die wunderbare Dokumentation bringt dies alles noch mal perfekt bildlich auf den Punkt. Übrigens ist die Aufmachung des Sets hervorragend und neben vielen Bildern dieser Zeit gibt es eine umfangreiche Einleitung, viele Informationen zu den Songs und natürlich auch die Texte zu bewundern. Essenziell!
Text: Torsten Schlimbach