Tocotronic: Die Unendlichkeit
Universal
VÖ: 26.01.2018
Wertung: 8,5/12
Die intelligenteste Band Deutschlands meldet sich mit „Die Unendlichkeit“ zurück. Gut, der Einstieg war jetzt vorhersehbar und in Bezug auf Tocotronic zu erwarten. Dieses Trademark haftet der Band nun mal an. Allerdings auch nicht ohne Grund. Die Texte von Dirk von Lowtzow sind einmalig in der deutschsprachigen Rockmusik. Manchmal auch um drei Ecken gedacht, verdreht und mit Wörtern ausgeschmückt, die sonst keiner verwendet und die manchmal auch weitestgehend aus dem alltäglichen Sprachgebrauch verschwunden sind. „Die Unendlichkeit“ ist nun das zwölfte Album von Tocotronic. Es ist ein Konzeptalbum, denn jeder Song ist musikalisch ganz spezifisch einer Zeit zuzuordnen. Auf seine Art ist das sogar ein autobiografisches Werk. Im Vorfeld konnte man hier und da lesen und hören, dass man sich nun auch einer anderen Sprache bedient hätte und nicht mehr so verklausuliert daherkommen würde. Wer jetzt Sorge hatte, dass sich Tocotronic damit auch der eigenen Stärke beraubt hätte, dem kann zugeflüstert werden, dass hier immer noch Wörter durch die Szenerie wehen, die sonst keiner in der deutschen Musiklandschaft verwendet. Sprachlich bedient man sich trotzdem einer anderen Herangehensweise.
„Die Unendlichkeit“ ist vermutlich das vielseitigste Album von Tocotronic. Bei der aufwändigen Produktion wurde sich nicht auf einen Stil festgelegt. Trotzdem wird das alles durch den roten Faden der Erzählung zusammengehalten. Der Titelsong „Die Unendlichkeit“ und das Ende mit „Mein Morgen“ sind die Einleitung und das Nachwort. Sozusagen die Klammer des Albums.
Nach gut und gerne 25 Jahren Bandgeschichte macht „Die Unendlichkeit“ thematisch durchaus Sinn. Tocotronic nehmen uns noch mal mit in die Provinz und ihre Jugend. Die Älteren unter uns werden sich noch an die RAF-Fahndungsfotos dieser Tage erinnern. Man war auch in der Provinz politisch. Es wird aber auch das Anderssein besungen und die Häme, die die Dorfjugend mit großen Kübeln über die alle jene ausschüttete. Trotzdem ist die Haltung der Herren von Tocotronic hör- und spürbar. Man ertrug dies alles mit einer großen Portion Stolz. Es ging und geht auf „Die Unendlichkeit“ weiter nach Hamburg. Man kennt ja die ausgelutschte Begrifflichkeit „Hamburger Schule“. Hamburg war für Tocotronic aber nicht nur gut, und anscheinend breiteten sich da einige Dämonen aus. Die Rettung fand man ausgerechnet in Berlin. Und dann klopfte auch noch der Tod an die Tür und holte einen Freund. Dies ist natürlich zutiefst persönlich, Tocotronic meistern aber auch das auf diesem Werk kongenial. Dies alles wird mit einer sprachlichen Klar- und Direktheit formuliert, die man so von der Band nicht unbedingt kennt.
Musikalisch sind da natürlich auch sehr viele Reminiszenzen an die jeweilige Zeit zu finden.
Wer kennt sie nicht, die bunten Lichter der Dorfkirmes? Die Faszination, die selbige Lichter auf Kinder ausüben? Ängstigend war das mitunter auch. „Tapfer und grausam“ erzählt von diesen Kindheitserinnerungen. Die Gitarre flirrt so schön dazu. Es gibt dann sogar eines dieser Tocotronic-Trademark-Solos zu hören. Bass und Schlagzeug sind eher sanft, gar jazzig. Teenage-Riot im Reihenhaus? Auch das kennt irgendwie jeder. „Electric Guitar“ versetzt einen dann in die Jugendzeit zurück. In die Jugendzeit der Herren, aber auch in die eigene. Eine gewisse Melancholie schwingt da mit. Das Stück ist auf eine angenehme Art treibend, aber im Grunde seines Herzens ist das schöne Popmusik.
„Hey Du“ wird ruppiger. Ja, da wurde bei Spiritualized mal ganz genau hingehört. Macht ja nichts. Dazu kann man sich wieder die Trainingsjacke mit den drei Streifen überziehen. Anderssein, Haltung zeigen, Außenseitertum – schön dahingerotzt. „Ich Lebe In Einem Wilden Wirbel“ besticht mit einer luftigen und leichten Atmosphäre, bevor „1993“ eine Mischung aus allerlei Stilen der 90er ist. Das rockt, die Kirmesorgel gibt der Nummer aber auch eine ganz besondere Note. Man kommt mit dem Song in Hamburg an – musikalisch und textlich.
„Unwiederbringlich“ ist schwere Kost. Der Aufbau nimmt sich viel Zeit, aber wenn nach knapp 1:50 Minuten der Gesang einsetzt, dann gibt es keine Fragen mehr. Ein Kloß ist da im Hals. Das wird aber auch auf eine sehr zärtliche Art vertont und vorgetragen. Die Farbtupfer, die das Klavier „Bis Uns Das Licht Vertreibt“ verleiht, sind sehr melancholischer Natur und konterkarieren den abermals treibenden Rhythmus. Das Tempo wird aber immer mal wieder aufgebrochen. Popmusik von Erwachsenen für Erwachsene und das auch noch toll umgesetzt. Die Gitarre hinten raus sorgt gar für eine Gänsehaut. Kein Krach, einfach nur schön. „Ausgerechnet Du Hast Mich Gerettet“ kann auf den Umzug nach Berlin gemünzt sein – oder aber auch auf eine Person. Ein bisschen zu süßlich, für Träumer aber vielleicht genau richtig! Mit „Ich Würd´s Dir Sagen“ gibt es einen weiteren, sehr ruhigen Song. Dies kann man dem Folk- und Singer/Songwriter-Genre zuordnen. „Mein Morgen“ klingt danach wie eine musikalische Zusammenfassung des gesamten Albums.
Fazit: Tocotronic gelingt mit „Die Unendlichkeit“ ein ganz feines Album. Ein autobiografisches noch dazu. Die Sprache ist direkter, trotzdem weit ab von dem, was einen da jeden Tag an Deutrrotzpoesie aus dem Radio anödet. Es wird spannend zu sehen sein, wie dieses Album von den Fans angenommen wird. Musikalisch ist das nämlich auch eine ganz schöne Reise. Die Hamburger Schule ist oftmals ganz weit weg. Wäre ja auch komisch, wenn das nach dieser bewegten Karriere – man denke nur an die Alben der 00er-Jahre – anders wäre. Eigentlich sind die Herren dafür noch zu jung, aber „Die Unendlichkeit“ geht in Richtung würdiges Alterswerk!
Text: Torsten Schlimbach
Tocotronic: dito (Das Rote Album)
Universal
VÖ: 01.05.2015
Wertung: 9/12
Verehrte Damen und Herren, das gab es doch schon, ein Tocotronic Album ohne wirklichen Namen. Das elfte Werk ist ganz in Rot gehalten. Es ist ein knalliges Rot und wird fortan als „Das Rote Album“ in den Backkatalog Einzug halten. Thematisch passt sich das Äußere dem Inhalt an. Dieses Werk folgt einem Konzept und wandelt auf den Spuren der Liebe. Und der Erinnerung. Wer jetzt schon zu einem Jubelsturm ansetzt, dem sei gesagt, dass besagtes „Das Rote Album“ musikalisch kein nostalgischer Blick zurück ist. Wie schon bei „K.O.O.K“ gehen die vier Herren mittleren Alters neue Wege und schlagen ein neues Kapitel auf. Das wird nicht jedem gefallen und die Aufschreie der Empörung dürften in geballter Form für einen Tinnitus sorgen. Und wie ist nun dieses neue Album? Es ist anders, aber gut.
Hat man sich die letzten Tagen auf dem offiziellen Facebook-Kanal der Band durchgeklickt, dann ist man ratlos, gar fassungslos. Da wird gerne mal von sogenannten Fans der ersten Stunde gefordert, dass sich die Band doch wieder die Trainingsjacken anziehen möge. Dabei dreht es sich weniger um optische Begehrlichkeiten, denn vielmehr dem Wunsch, dass Tocotronic musikalisch immer noch das Jahr 1994 feiern sollte. Haben sich diese Fans der ersten Stunde denn in den letzten zwanzig Jahren nicht weiterentwickelt? Sind selbige stehengeblieben? Man muss „Das Rote Album“ nicht mögen, aber man darf von einer Band wie Tocotronic sicher nicht erwarten, dass sie immer noch aufsässig lärmt wie in der Anfangszeit. Und den Jugendjahren. Mit Mitte Vierzig verschiebt sich der Fokus mitunter und das hört man diesen Songs deutlich an.
Im Jahre 2015 wird es romantisch und süßlich. Manchmal erweist sich Dirk von Lowtzow aber auch als unbeholfener Beobachter der Liebe. Die Texte sind dann ungelenk. Bei anderen deutschen Bands würde man das kritisieren (müssen), bei Tocotronic entwickelt dies, auch aufgrund der Phrasierung von Herrn von Lowtzow, einen ganz besonderen Charme. „Ich hafte an dir, wie Tinte auf Papier, wie Sticker an der Tür“ würde man anderen sicher nicht durchgehen lassen. In gewisser Weise brechen Tocotronic hier auch mit der eigenen Vergangenheit, denn einst besangen sie die Unmöglichkeit deutscher Liebestexte. Man ist eben lernfähig. Auf der anderen Seite führt einem dieses Album wieder vor Augen, dass die deutsche Sprache auch wunderschöne Wörter hat: zyklisch und selbst das Wort Fratzen kriegt bei Tocotronic immer eine Dringlichkeit, die anderen Bands abgeht.
Musikalisch betten Jan Müller, Rick McPhail und Arne Zank die Poesie in ein liebliches Popgewand. Es ist die Abkehr vom Diskursrock, der Tocotronic ja immer angehaftet wurde. Musikalisch ist „Das Rote Album“ teilweise von einem tanzbaren Groove untermalt, der in dieser Form sicher neu für die Band ist. Der Bass von Jan Müller treibt oft genug die Stücke voran. „Prolog“ wird gar von den vier Saiten dominiert, während Rick McPhail das Ganze ausschmückt. Arne Zank, der Minimalist und den Schlagzeugern, hält den ganzen Laden zusammen. Eine tolle Albumeröffnung, die nach hinten raus auch noch einige schräge Überraschungen bereithält, mit denen sich gerade live eine ganze Menge anstellen lässt. Die Gitarren sind keineswegs verschwunden und auch hier gibt es einen Neil Young-Gedenkmoment. Nicht so wie bei „Jungfernfahrt“ - übrigens einer der besten Songs der Platte – welcher glatt an Crazy Horse erinnert, aber immerhin. Den besten Song, der mit all seiner erhabenen Düsterheit die Gehörgänge umscheichelt, gibt es schon als zweiten Track zu hören: „Ich Öffne Mich“. Das Stück ist euphorisch, pathetisch, schwelgerisch. Ein Kalimba als Einleitung und ein Chor, der einem eine Woche im Ohr hängen bleibt – mindestens.
Die Single „Die Erwachsenen“ ist der Grund dafür, dass so manche Altfans verbal Amok laufen. Ach Kinder, hört doch mal auf den Text oder zumindest auf den Bass. Es ist ein schöner Song. Ein Song für die Jugend. Ein Song, der in jeglicher Hinsicht das (jugendliche) Leben feiert. Vielleicht verstehen manche Erwachsene das aber nicht mehr. „Rebel Boy“ führt das auf eine luftige Art und Weise fort. Vielleicht erinnert das gar ein bisschen an Prag, jener Band in der Nora Tschirner musiziert. „Chaos“ kommt etwas verträumter daher, während „Solidarität“ mit Streichern und gezupften Gitarren musikalisch etwas blass bleibt. „Spiralen“ hat immerhin einen dieser unwiderstehlichen Beatles-Momente zu bieten. Und da ist er dann doch noch, der Song, der ein bisschen in der eigenen Vergangenheit wühlt. „Sie Irren“ klingt allerdings zu sehr nach Schlager und driftet so gar ein bisschen in die Komik ab. Mit „Zucker“ haben Tocotronic ab jetzt einen Sommerhit im Katalog, der an Die Ärzte der 80er erinnert. „Tenagerliebe“, „Sommer, Palmen, Sonnenschein“ und so. Dann folgt das tolle „Jungfernfahrt“, bevor „Diese Nacht“ den Hidden Track „Date Mit Dirk“ vorbereitet. Vögel zwitschern, ein Bach plätschert und ein Flugzeug fliegt über einen hinweg. Der ältere Dirk verabschiedet sich hier von seinem jungen Ich und so schließt sich der Kreis.
Fazit: Tocotronic knutschen jetzt. Das haben die vier Herren vermutlich schon immer getan, aber jetzt sagen sie es auch. Ja, „Das Rote Album“ ist ein Liebesalbum. Manchmal ungelenk, aber immer charmant. Es kracht weniger, dafür gibt es mehr Pop. Pop, den auch New Order, The Smiths oder The Cure machen würden. Das ist ja nun wahrlich nichts Schlechtes. Da mag zwar so mancher Altfan erbost in seinen Pfefferminztee spucken, aber das ist total egal. Wer mit Liebe nichts anfangen kann, hört eben nicht hin. Gut, dass es „Das Rote Album“ gibt. Wir sind verliebt.
Text: Torsten Schlimbach
Tocotronoic: Wie Wir Leben Wollen
Universal
VÖ: 25.01.2013
Wertung: 8/12
Tocotronic ist eine der letzten deutschsprachigen Bands der 90er, die überlebt hat. Erstaunlicherweise haben es die Herren fast immer verstanden jegliche Begehrlichkeiten vor der Tür zu lassen. Es wurde immer der eigene Weg verfolgt und fokussiert gearbeitet. Erwartungshaltungen sollten gar nicht erst erfüllt werden. Was hat man der Band nicht schon alles an Stilen aufgedrückt! Von Hamburger Schule bis Diskursrock wurde und wird zwanghaft nach einer Schublade gesucht. Der Mainstream hat Tocotronic sowieso längst mit offenen Armen empfangen. Von den Trainingsjacken ging man nahtlos zu den Anzügen über. Der kommerzielle Erfolg hat sich mittlerweile sowieso längst eingestellt. Freilich blieben einige Anhänger dabei auf der Strecke und nicht jeder konnte oder wollte den eingeschlagenen Weg mitgehen. Für viele stellte die Berlin-Trilogie allerdings eine Art versöhnlicher Abschluss einer langen Reise dar. Überproduzent Moses Schneider hat daran sicher auch einen nicht unerheblichen Anteil.
Und was kommt jetzt? Alles vergessen was war, denn Tocotronic machen wieder einen Schlenker um die Ecken und es ist wieder alles anders. Stillstand ist ja auch schließlich ein Rückschritt. Wer sich in das letzte Album verliebt hat, wird seine Beziehung zu der Band nun unter Umständen wieder überdenken müssen. Der Frühjahrsputz ist gemacht, die Fenster geöffnet und es wurde komplett durchgelüftet. Staub konnte sich so gar nicht erst einnisten. Tocotronic machen eben Kunst, die auch für jedes einzelne Bandmitglied spannend sein soll und eben auch gerecht werden muss. Und da sind wir schon wieder bei den Erwartungshaltungen. „Wie Wir Leben Wollen“ funktioniert nur ohne, denn sonst wird es eine Bruchlandung wie sie einst Quax hingelegt hat.
Der Auftakt mit „Im Keller“ ist schon ein verdammt starkes Statement. Damit zeigen Tocotronic gleich deutlich wohin die Reise geht. Hat man dann noch „Eure Liebe Töte Mich“ - den Opener von „Schall Und Wahn“ - im Ohr, dann ist das schon mal ein dickes Ausrufezeichen! Und selbstverständlich kann dies kein Zufall sein. Auf der einen Seite dieser von Neil Young und „Cortez The Killer“ inspirierte Brocken und jetzt dieses luftige Popstück. Angeblich wurden im Vorfeld der Aufnahmen zu „Wie Wir Leben Wollen“ Beach Boys und Beatles Platten auf den psychedelischen Pop-Appeal geprüft. Ob das stimmt sei mal dahingestellt, es hört sich jedenfalls gut an. Und es könnte tatsächlich eine Inspirationsquelle für dieses Album gewesen sein.
„Im Keller“ lässt zudem noch einen ganz anderen Aspekt deutlich zu Tage treten: der Gesang wirkt produzierter und in den Vordergrund gemischt. Die letzten drei Alben kamen ja mit sehr wenigen Overdubs aus, dies ist nun merklich anders und auch da fungiert „Im Keller“ als eine Art Türöffner. Die neue Platte hat jede Menge Gesangsdopplungen, Chöre und viel Hall, Delay und Echos zu bieten. Wer damit nichts anfangen kann, wird seine liebe Mühe und Not haben. Und dann wurde als Gegenpol quasi eine Vier-Spur-Bandmaschine verwendet – und ein Schlagzeug in Mono. Gegensätze ziehen sich eben an und schließen sich nicht aus!
Thematisch ist „Wie Wir Leben Wollen“ ebenfalls keine leichte Kost. Aber das galt für Tocotronic schon immer und es war vor Urzeiten nicht umsonst die Rede von einer Band für Abiturienten und Studenten. Wenn man so will, dann folgt diese Scheibe thematisch sogar einem Konzept. Körper und Befreiung zieht sich wie ein roter Faden durch die Songs. Die Seele wird losgelöst vom Körper. Wie reagiert also der Körper auf die verschiedenen Einflüsse – ohne seelische oder psychische Auswirkungen. Willkommen in der Welt der Utopien.
Tocotronic haben es also wieder getan und ein Popalbum aufgenommen. Vergleiche zu „K.O.O.K“ drängen sich förmlich auf. Dieses Mal ist es allerdings etwas anders. Damals wollte sich die Band bewusst neu ausrichten und die Dinge abschütteln, mit denen sie sich sowieso nicht mehr wohlgefühlt hat. Nun nach der Berlin-Trilogie musste einfach noch mal eine neue Tür aufgestoßen werden. „Vulgäre Verse“ und „Warte Auf Mich Auf Dem Grund Des Swimmingpools“ sind einfach schöne Indiepopsongs, die weniger durch eine schöne Melodie glänzen und vielmehr durch den weichen Gesang getragen werden. Natürlich hat man dem Rock nicht völlig abgeschworen! Selbiger liegt aber eher unter den ganzen Schichten im Verborgenen. Auf „Auf Dem Pfad Der Dämmerung“ kann man auch ein paar rumpelnden Elemente finden – man muss nur danach suchen. Das ausgefeilte „Abschaffen“ groovt auf eine sehr dezidierte Weise sogar.
Tocotronic hatten in der langen Karriere auch immer wieder Tracks im Gepäck, die ohne Umschweife musikalisch direkt auf den Punkt kamen. „Ich Will Für Dich Nüchtern Bleiben“ ist ein solches Stück welches sich straight durch die Prärie rockt – dem steht auch das Glöckchengebimmel nicht hinderlich im Weg. „Chloroform“ ist das komplette Gegenteil und trägt Ansätze von alternden Herrschaften in sich. Dies ist nicht despektierlich zu verstehen – es trifft ja auch zu. Ist das nun Country im Tocotronic-Stil? Man könnte auf die Idee kommen. „Die Verbesserung Der Erde“ dringt in Sphären vor, die tatsächlich psychedelisch anmuten. „Wie Wir Leben Wollen“ ist eben auch eine Platte der Gegensätze, denn mit „Exil“ geht es dann wieder zurück ins Rocklager – Stones-Zitat inklusive. „Warm Und Grau“ geht sogar in Richtung Avantgarde. Das mag anstrengend sein, ist aber durchaus interessant. Unter den siebzehn Songs gibt es aber immer mal wieder einen Song, der sogar die alten Anhänger zufriedenstellen wird. „Höllenfahrt Am Nachmittag“ - übrigens auch mit Glöckchen – sammelt sicher auch noch die Fans der ersten Stunde ein. Und dann kommt er doch noch, dieser unverwechselbare Neil Young-Moment. Der Titeltrack „Wie Wir Leben Wollen“ pflügt sich nämlich langsam ins Gehirn. Danach ist man auch bereit für „Unter dem Sand“!
Fazit: Tocotronic liefern mit „Wie Wir Leben Wollen“ ein Album ab, mit dem es die Band dem Zuhörer nicht immer leicht macht. Es braucht ein paar Durchgänge bis man sich in die Platte gewühlt hat. Pop ist nun die neue Marschroute und gerne dürfen auch ein paar psychedelische Elemente die Songs bereichern. Der Rock ist nicht gänzlich verschwunden, muss aber erst freigeschaufelt werden. Eins ist aber sicher, nach den ganzen Jahren nimmt diese Band im deutschsprachigen Raum eine Ausnahmestellung ein – immer noch!
Text: Torsten Schlimbach