Stephen Stills: Carry On (4 CD Box)
Warner/Rhino
VÖ: 22.03.2013
Wertung: 12/12
Tipp!
Stephen Stills ist eine lebende Legende und Ikone der Rockmusik. Sein Einfluss kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Einer jüngeren Generation wird der Name freilich nichts sagen und kaum einer wird einordnen können, welche Spuren er in seiner 50-jährigen Karriere hinterlassen hat. Wer sich aber ernsthaft mit Musik beschäftigt und auseinandersetzt, wird früher oder später merken, dass Stephen Stills einer der ganz Großen ist. Er hat nie den großen Lautsprecher abgegeben und dieses Feld lieber anderen überlassen. Stills überzeugte durch sein Talent als Songschreiber und famoser Gitarrenvirtuose, der seine Kunst stets in den Dienst der Songs stellte, diese aber ebenso prägen konnte. Stephen Stills hat ohne Zweifel Musikgeschichte geschrieben!
Mittlerweile ist der Mann 68 Jahre jung und kann auf einen Fundus von mehr als 250 Songs zurückblicken. Zeit also, dies alles mal zu sichten und ordnen. Kein Geringerer wie Graham Nash hat nun mit Joel Bernstein eine Retrospektive zusammengestellt. Diese feine Box zählt unzweifelhaft zu den besten Veröffentlichungen, die es auf diesem Gebiet die letzten Jahre gegeben hat. Die Anthologie ist in jeglicher Beziehung stimmig. Die dicke Box macht einen recht stabilen Eindruck und lässt sich leicht ausklappen. Die CDs kann man einzeln und schnell entnehmen. Das hat man auch schon umständlicher gelöst – ein dickes Lob also an alle beteiligten Personen. Und dann gibt es noch einen Schuber, in dem sich dem geneigten Fan ein dickes Buch offenbart. Man könnte schon alleine über diesen – jedenfalls für eine solche Veröffentlichung – kleinen Wälzer eine eigene Rezension verfassen. Neben vielen Fotos mit all seinen Weggefährten, gibt es noch zwei wunderbare Essays und jede Menge Eckdaten dieser famosen Karriere zu lesen. Natürlich hat man auch an die Informationen über und zu den einzelnen Songs gedacht. In jeglicher Hinsicht überzeugend! Das feine Teil wird man noch öfters zu Hand nehmen um in die musikalische Geschichte von Stephen Stills einzutauchen.
Die beste Aufmachung nützt natürlich nichts, wenn die Musik dann nicht stimmig ist. Die Gefahr war hier natürlich nicht gegeben und doch überrascht das Gesamtpaket noch mal sehr positiv. Man hat es sich nicht nehmen lassen und ganz tief in den Archiven gegraben und 25 bisher unveröffentlichte Songs zu Tage gefördert! Insgesamt beinhaltet das Set mehr als 80 Tracks! Das ist mal eine Hausnummer. Die Reihenfolge ist nicht immer chronologisch, hält sich aber weitestgehend an die musikalische Reise von Stills. Der Sound lässt einem teilweise die Kinnlade auf den Tisch klappen. Manche der älteren Klassiker wurden neu abgemischt und somit stellt sich noch mal ein ganz neues Hörerlebnis ein. Es empfiehlt sich der Einsatz von Kopfhörern, denn dann kann man die vielen feinen Nuancen noch mehr genießen. Wenn es mal rockig wird, dann kann man die Anlage auch gerne aufdrehen und sich förmlich wegblasen lassen.
Stephen Stills hat in seinem Repertoire ja sowieso fast alle Spielarten der Populärmusik zu bieten. „Carry On“ führt dem Zuhörer dies wieder mal in aller Deutlichkeit vor Augen. Der Mann ist eben extrem versiert und hat stets ein Gefühl für die verschiedenen Spielarten, Stile und Genres entwickelt. Es dürfte kaum einen anderen Künstler geben, der dies von sich behaupten kann.
Wo soll man bei diesem opulenten Set anfangen und wieder aufhören? Den Einstieg findet man auf der ersten CD recht leicht, da selbige mit der unveröffentlichten Monoversion von „Travelin´“ ganz gemütlich startet. Diese kleine Folkfingerübung wurde 1962 in Costa Rica aufgenommen. Kennt eigentlich noch einer The Au Go Go Singers? Vermutlich nur die Nerds. „High Flyin´ Bird“ ist jedenfalls ein Knaller und fängt einerseits die Love & Peace Ära ein, hat aber auch eine dunkle Seite wie man sie manchmal auch beim Gospel findet.
Anschließend folgt die Ära mit Buffalo Springfield. Die Band – bei der Stills dann auch erstmals mit einem gewissen Neil Young arbeitete – hatte ein feines Hitgespür und mit „For What It´s Worth“ der Rockmusik eine große Sternstunde beschert. Das Box-Set von Buffalo Springfield sei an dieser Stelle auch unbedingt empfohlen. Auf „Carry On“ gibt es jetzt einen neuen Mix von Everydays“. Die Nummer wird dominiert von Stills Pianospiel und seinem fein akzentuierten Gesang. Durchschnitten wird die Szenerie immer wieder von der Gitarre – ein Fingerzeig von Young in die Zukunft.
Mit „Who Ran Away?“ hat die erste CD noch einen weiteren, unveröffentlichten Song von Stills zu bieten. Sämtliche Instrumente hat der Meister direkt selbst eingespielt. Hier zeigt sich abermals das breite Spektrum von Stills, denn durch diese luftige und leichte – nicht zu verwechseln mit belanglos – Nummer weht ein Latinflair. Ganz anders ist da das, ebenfalls unveröffentlichte, „49 Reasons“ ausgefallen. Psychedelische Elemente geben sich mit dem Rock die Klinke in die Hand – interessante Mischung. „4 + 20“ wurde von Graham Nash in ein neues Gewand gekleidet. Dieser Mix ist hervorragend und sollte Tarantino nochmals einen Western drehen, muss dieser Song einfach mit auf den Soundtrack. „Carry On/Questions“ von Crosby, Stills, Nash & Young spannt den Bogen vom Folk zum fein austarierten Blues. Diese Version hier ist der bisher unveröffentlichte Mix von 1968. Das großartige Rockstück „Woodstock“ beendet schließlich die erste CD. Herausragend ist hier abermals die Gesangsleistung.
Zeit zum Durchatmen gibt es aber nicht, denn die zweite CD startet mit dem Solostück „Love The One You´re With“ derart genial, dass man sich fragt, wie ein Mann mit so viel Talent gesegnet sein kann! Von Folk, über Gospel bis hin zum Pop wird ein Spinnennetz gespannt, dass einem der Atem stockt. Und für Jäger und Sammler wird mit „No-Name Jam“ ein großer Schatz gehoben, denn hier ist kein Geringerer wie Jimi Hendrix dabei. Wie sich die beiden Gitarristen die Bälle zuschieben ist die ganz große Kunst des blinden Verständnisses. Feine Sache, dass man dies nun auch dem Rest der Welt zugänglich macht.
„Carry On“ lebt insbesondere aber auch durch die Solosachen von Stephen Stills richtig auf. Die unveröffentlichte Studioversion von „The Treasure“ weiß ebenso zu überzeugen wie die feine Ballade „To A Flame“, welche musikalisch unglaublich vielfältig ist – übrigens mit Ringo Starr an den Drums. Stephen Stills hat in seiner langen Karriere sowieso mit so ziemlich allen Größen des Geschäfts gearbeitet. Bei „Change Partners“ - einer Mischung aus Folk und Country – sind beispielsweise Nils Lofgren und Jerry Garcia dabei. Warum „Little Miss Bright Eyes“ bisher komplett unter den Tisch gefallen ist, bleibt wohl ein Rätsel. Aber genau dafür gibt es ja solche Sets. Eine wunderbare Entdeckungsreise, die einem hier kredenzt wird.
Es liegt ja in der Natur der Sache, dass eine derart üppige Songauswahl auch den einen oder anderen Track an Bord hat, der nicht ganz so gelungen ist – liegt ja auch immer im Auge, in diesem Fall Ohr, des Betrachters und Hörers. „Turn Back The Pages“ rockt zwar ordentlich durch die Prärie, ist aber nur leidlich spannend. „First Things First“ ist auch eher langweilig, daran ändert auch das unveröffentlichte Intro nur wenig. Das funkige „My Angel“ reißt es dann aber wieder raus. Und dann entdeckt man plötzlich diesen kleinen Schatz, der einen förmlich aus den Schuhen haut. Stephen Stills, nur mit seinem Banjo, gibt bei „Know You Got To Run“ den Voodoo-Meister. Diese Liverversion aus dem Dezember 78 ist wahrlich einer der vielen Höhepunkte von „Carry On“. Dem gegenüber steht der straighter Rocker „I Give You Give Blind“. Geradeaus und auf den Punkt gebracht – CSN waren schon groß, mit dem Y manchmal sogar noch größer. Wohin die Reise bei „Cuba Al Fin“ musikalisch geht, lässt sich ja schon anhand des Titels erahnen. Stephen Stills war und ist eben auch ein Mann, der durchaus in der Weltmusik zu Hause ist. Das epische „Spanish Suite“ lässt daran sowieso keine Zweifel mehr aufkommen. „Feel Your Love“ ist ein weiterer Beleg dafür, dass eine Ballade schnell zu einer schweißtreibenden (Rock)Angelegenheit werden kann. So lahm diese dritte CD auch begonnen haben mag, so erhaben wird diese mit „Daylight Again“ beendet!
CD vier unterstreicht nach dem langatmigen „Southern Cross“ mit „Dark Star“ und „Turn Your Back On Love“, dass CSN eine hervorragende Liveband waren, die wie ein Uhrwerk arbeitete und funktionierte. Der unveröffentlichte Stills Song „Welfare Blues“ mag vom Ton nicht gerade herausragend sein, denn der Gesang ist in dieser Monoversion doch stark in den Hintergrund gemischt, die Gitarre fräst sich aber derart ein, dass es die pure Freude ist. „Church (Part Of Someone)“ schließt sich da hervorragend an. Das Ding groovt und stampft wie – Entschuldigung!- Sau. Klasse!
Stephen Stills hat sich selbstverständlich auch mal an einer Art Reggae versucht. Ehrlicherweise muss man allerdings sagen, dass „I Don´t Get It“ auch ein bisschen den Faden verliert und den Bach runtergeht. Dann lieber wieder CSN mit „Haven´t We Lost Enough“. Zu Beginn der 90er war es für die Truppe sicher nicht mehr ganz so einfach und doch blieben sie ihrer Linie treu und somit klingt dieser Track auch zeitlos – zeitlos schön. Dies gilt auch für die großartige Bluesfingerübung „The Ballad Of Hollis Brown“. Mit „Ole Man Trouble“ hat man sich für diese Box eine ganz besondere Perle für die Zielgerade aufgehoben. Crosby, Stills, Nash & Young spielten das Stück live im Februar 2002 in New York. Das letzte Wort hat natürlich der Meister. „Ain´t It Always“ ist genau der richtige Track zum krönenden Abschluss. Keine sentimentale und rührselige Nummer, sondern ein Song, der direkt und geradeaus daher kommt. So soll es sein!
Fazit: Sets wie „Carry On“ gibt es ja mittlerweile jede Menge, aber kaum eines kann dieser Veröffentlichung hier das Wasser reißen. Die liebevolle und detailreiche Aufmachung ist da nur eines der vielen Zückerchen. Die Songauswahl ist - bis auf ein paar verständliche Ausnahmen - grandios, vielfältig und überragend. Man erhält einen sehr umfangreichen Einblick in das musikalische Werk von Stephen Stills. Die vielen Raritäten und Fundstücke sind da nur das Sahnehäubchen! Prädikat: besonders wertvoll. „Carry On“ ist eine Pflichtveranstaltung! Wer dem Osterhasen noch etwas in das Körbchen legen möchte, liegt hiermit richtig. Aber Vorsicht, denn Meister Lampe wird die Box wohl kaum verstecken und sich diese lieber selber unter die Pfoten reißen!
Text: Torsten Schlimbach