Boy: We Were Here
Grönland/Rough Trade
VÖ: 21.08.2015
Wertung: 8,5/12
Valeska Steiner und Sonja Glass sorgten 2011 für die größte Popüberraschung, die Deutschland seit langer Zeit auf die Ohren bekommen hat. Die charmanten Songs, die keineswegs der üblichen Zuckerwatte entsprachen, trafen einfach mitten in viele Herzen. Der Indiepop lebte, der Indiepop erstrahlte in seinen buntesten Farben ganz neu. Boy hatte keiner auf dem Zettel, nach dem Debütalbum „Mutual Friends“ kannte die beiden jeder – zumindest, wenn man nicht unter einer Glasglocke gelebt hat. Touren durch Deutschland und die Schweiz waren ja nur logisch, aber auch Japan oder die USA wurden betourt. Und dann wurde Boy eine ganz besondere Ehre zuteil: ein Auftritt in der Sesamstraße mit Ernie und Bert. Man hätte ja vermuten können, dass die beiden bezaubernden Damen ein schnelles Zweitwerk folgen lassen. Pustekuchen, sie ließen sich Zeit und nun dauerte es fast vier Jahre, bis mit „We Were Here“ der Nachfolger in den Läden steht.
Fans von „Mutual Friends“ werden beim ersten Hördurchgang von „We Were Here“ mitunter enttäuscht sein. Das neue Album ist kein Abklatsch des Debüts und bisweilen ein großes Stück anders ausgefallen. Die Fröhlichkeit, die noch den Erstling auszeichnete, ist verschwunden. Die Unschuld auch. „We Were Here“ ist düster, melancholisch und nicht so leicht zu packen. Die Schönheit der Songs liegt im Verborgenen und will freigegraben werden. Die einzelnen Tracks springen einen nicht an und man muss sich schon selber auf die Suche begeben. Und genau daraus bezieht diese Platte ihre Stärke. Das ist doch auch immer genau das, was der geneigte Fan und Hörer will: Weiterentwicklung. Boy treten mit „We Were Here“ definitiv nicht auf der Stelle. Die beiden Damen sind erwachsener geworden und das schlägt sich eben auch auf den Sound und die Songs nieder.
Abgesehen von der Tatsache, dass man nun fast vier Jahre auf das neue Album warten musste, überrascht selbiges auch noch durch seine Kürze. Neun Songs sind jetzt nicht gerade das, was man als üppig bezeichnen kann. Ob es noch mehr Songs oder Ideen gab? Keine Ahnung. Das spielt aber im Grunde auch überhaupt keine Rolle, denn es geht ja um Qualität und nicht Quantität. Das CD-Format hat die Künstler verschiedener Genres in der Vergangenheit dazu verleitet, den Silberling bis zum Anschlag vollzupacken. Nicht selten war jede Menge Füllmaterial dabei. Boy machen diesen Fehler glücklicherweise nicht und kommen lieber knackig auf den Punkt.
Steigen wir mal etwas tiefer in dieses Album ein. Der Titeltrack und die Albumeröffnung - „We Were Here“ - ist die Sorte Song, die man im Dunkeln auflegt, wenn man durch die grellen Lichter der Großstadt fährt und seinen Gedanken nachhängt. Man ist unter den ganzen Menschen, die sich in aller Hektik in ihr Vergnügen stürzen, total deplatziert. Alleine. Das ist gut so. Der Refrain wächst nach und nach, setzt sich aber nicht sofort im Ohr fest. Die Melancholie, die über dem Stück schwebt, holt einen aber sofort ab. Der Spannungsbogen der Nummer ist ebenfalls ganz vorzüglich. Ein abwechslungsreicher Auftakt mit sehr viel Liebe zum Detail und nach hinten raus entwickelt sich das sogar zum dringlichen Pop. „River Or Oceans“ ist die Symbiose aus akustischen Instrumenten und Synthies. Boy agieren hier eher zurückhaltend. Das ist düsterer Indiepop, der durch den Gesang einen bunten Farbtupfer erhält. „Hit My Heart“ groovt und ist tanzbar und ist deutlich als Boy-Track zu erkennen. Die Stadt, die niemals schläft, wird in „New York“ musikalisch gewürdigt. Boy machen das auf eine ganz dezente Art und Weise – und leise. Das wunderschöne Stück ist also genau das Gegenteil von dem, was diese Stadt ausstrahlt. Und ein Ohrwurm. Eine Ballade. Ein tolles Kleinod.
Wer jetzt an dieser Stelle den großen Knall, die lauten Töne erwartet, bekommt mit „Hotel“ das genaue Gegenteil geboten. Auch „No Sleep“ hält sich trotz des Basses eher zurück. „Fear“ lässt sich da schon etwas mehr gehen. Da ist er doch, der Indiehit der Platte. Das ist zwar kein „Little Numbers“ aber immerhin mal etwas forscher. Boy haben mit „We Were Here“ ein Zuhörerplatte aufgenommen. Kopfhörer drängen sich da förmlich auf, denn sonst verpasst man noch die liebevollen Details, die dieses Album ausmachen. „Flames“ geht in die Snow Patrol oder Coldplay Richtung, bevor mit „Into The Wild“ der schönste Song das Album beendet. Eine wunderbare Ballade, die das Ende der Nacht ankündigt. Die Sonne geht auf, es wird hell und vorbei ist die Schwermut und Düsternis von „We Were Here“. Die Stadt zeigt sich von ihrer schönen Seite.
Fazit: Die beiden Damen von Boy sind nicht nur älter, sondern auch reifer und erwachsener geworden. Die Unbekümmertheit des Debüts ist einer Melancholie gewichen, die eher in die Nacht passt. Es sind größtenteils ruhige Songs, die aber mit sehr viel Liebe zum Detail ausgearbeitet wurden. Man muss sich für „We Were Here“ etwas Zeit nehmen, denn sonst kann man die Schönheit des Albums nicht entdecken. Es sind tolle, kleine Indiepopsongs, die nicht mehr so zupackend wie beim Erstlingswerk sind, dafür aber tiefer gehen.
Text: Torsten Schlimbach
Boy: Mutual Friends
Grönland
VÖ: 02.09.2011
Wertung: 10/12
Tipp!
Boy? Es gab mal einen Laden in Köln der sich so nannte. Auch das erste Album von U2 wurde Boy betitelt. Der Name Boy steht für viele Dinge, man würde aber sicher nicht so schnell darauf kommen, dass dies auch eine Verbindung zwischen Zürich und Hamburg sein könnte. Noch weniger würde man wohl vermuten, dass es sich hierbei um zwei junge Künstlerinnen handelt. Ist aber so und „Mutual Friends“ ist nun das Ergebnis dieser wunderbaren Konstellation.
Noch mal kurz zurück auf Anfang. Boy sind Valeska Steiner aus Zürich und Sonja Glass aus Hamburg. Aufgenommen wurde ihr Debüt-Album in Deutschland. Valeska ist kurzerhand in die Hansestadt gezogen. Die Aufnahmen fanden trotzdem größtenteils in Berlin statt. Dazu reichten zwölf Quadratmeter aus. Ein Kinderzimmer. Ein Kinderzimmer, welches zu einer Art Tonstudio umgebaut wurde. Selbiges gehört dem Multiinstrumentalisten Philipp Steinke. Was allerdings noch fehlte war ein Schlagzeuger. Gut, dass Thomas Hedlund von Phoenix gerade Zeit hatte.
Das Ergebnis ist mit Worten kaum zu beschreiben. Man muss es gehört haben. Ach Quatsch, man sollte! „Mutual Friends“ dürfte eines der besten Indiepop-Alben des Jahres 2011 sein. Diese 48 Minuten haben es in sich. Boy werden in Zukunft sicher gerne mit Phoenix verglichen - vielleicht demnächst auch mit der bezaubernden Feist. Bezaubernd sind Boy und ihre Musik auch. Die Arrangements sind hinreißend und die Instrumentierung wundervoll. Die beiden Damen schaffen es aber, ihre Musik nie zu überladen. Auf eine gewisse Art und Weise ist das minimalistischer Pop. Die beiden Stimmen fügen sich fast spielerisch in das Klangbild ein. Viele kleine Spielereien im Hintergrund erschließen sich erst nach und nach. Kopfhörer seien hier besonders empfohlen. „Waitress“ ist eine der besten Popnummern der Jahres, die man allerdings nie im Radio hören wird. Wie sich der Song zum Refrain hin öffnet ist schon eine Kunst für sich und dann zerbricht zum Schluss alles – im wahrste Sinne des Wortes.
Oder nehmen wir das feine Singer/Songwriter Stück „Army“. Der melancholisch angehauchte Gesang ist das Salz in der Suppe. Salz wird ja manchmal unterschätzt, andere verzichten gänzlich drauf. Würde hier nicht funktionieren. Die Single „Little Numbers“ ist ganz nett und macht richtig Spaß und dürfte im Formatradio ganz positiv zwischen all dem Plastik auffallen. Der Minimalismus von „Railway“ bringt einen fast um den Verstand, weil genau dies so viel Schönheit freilegt. Folk gibt es hin und wieder auch, wie beim sehnsuchtsvollen „Waltz For Pony“. „Boris“ hingegen schleppt sich ganz langsam auf einer staubigen Straße in Richtung Sonnenuntergang. Wenn Indiepop, dann aber bitte so! Es ist aber nicht so, dass sich die beiden Damen hier den ganzen Tag einfach nur im Keller verstecken. Nein, es darf auch einfach mal eine überbordende Fröhlichkeit wie bei „Oh Boy“ sein.
Fazit: Das Damen-Duo von Boy hat mit ihrem Debüt-Album „Mutual Friends“ ein ganz tolles Indiepopalbum aufgenommen. Hier stimmt einfach alles. Das Songwriting ist gut, die Arrangements, Instrumentierung und überhaupt die ganze Umsetzung ist richtig toll. Hoffentlich haben genug Menschen ein offenes Ohr für diese beiden, denn es wäre doch schade, wenn es nicht weitere Musik von ihnen geben würde.
Text: Torsten Schlimbach