Kettcar: Zwischen den Runden

Kettcar: Zwischen den Runden
Grand Hotel Van Cleef
VÖ: 10.02.2012

 

Wertung: 10/12

Tipp!

 

Was wurde sich in den 00er Jahren doch bemüht einen neuen Musikstil zu finden. Da wurden zunächst die ganzen „The“ Bands durch die Dörfer getrieben. Natürlich hatten die in letzter Konsequenz nicht viel miteinander am Hut, aber das Kind brauchte ja einen Namen. Dann schweiften die Blicke auf die Insel und Franz Ferdinand, Arctic Monkeys, Art Brut, Kaiser Chiefs und Konsorten wurden plötzlich als die Retter des Rock auserkoren. Danach erfand man den Soul neu und setzte ein Neon davor und fertig war der nächste große Hype. Was das alles in einer Rezension über das neue Kettcar Album zu suchen hat? Die Band hat mit dem Debüt mal so ganz nebenbei die beste Platte des Jahrzehnts abgeliefert und die Welt hat es nicht gemerkt. „Du und Wieviel Von Deinen Freunden“ ist mittlerweile ein Klassiker deutscher Rockmusik. Als die Platte vor zehn Jahren erschien war dies schnell klar. Mehr Hitpotenzial hatte kaum eine andere Scheibe. Rauer war im deutschsprachigen Raum vorher ebenfalls nichts. Die Texte fingen die Befindlichkeiten der Nordlichter perfekt ein und „Landungsbrücken Raus“ ist auf immer und ewig die Hamburger Hymne schlechthin!

Nun also „Zwischen den Runden“. Fast vier Jahre nach „Sylt“. Eine Ewigkeit. Nichts ist mehr wie es war. Ruhiger sind sie geworden, die Jungs von Kettcar. Musikalisch jedenfalls. Na klar, mit vierzig ist man ja auch nicht mehr der wilde, junge Punk. Vielleicht haben sie sich auch einfach nur weiterentwickelt. Lassen wir die Fakten in Form von zwölf Songs für sich sprechen. Ach was, Songs, pah, das sind Kleinode aus Hamburg. „Zwischen den Runden“ mag auf der Suche sein, fängt vielleicht diesen klitzekleinen Zeitfetzen vom Übergang der ersten Lebenshälfte in die zweite ein. Ganz egal! Es ist ein Meisterwerk! Mal wieder!

Wo soll man anfangen? Vielleicht damit, dass die Hitdichte nicht so groß ist, wenn es hier überhaupt einen Hit gibt, dafür ist aber wieder jeder Song ein Treffer. Es gibt auf dieser Platte einfach keinen schlechten Song! Nicht einen! Muss man auch nicht nach suchen. Man sollte lieber genießen. Sänger Marcus Wiebusch hat für dieses Album übrigens sieben Tracks geschrieben und Bassist Reimer Bustorff fünf. Die verschiedenen Urheber merkt man gar nicht, denn die Zusammenstellung ist perfekt und fließend.

Kettcar haben eine ganz besondere Art die Songs zu vertonen. Da wird selbst die Szenerie der betrunkenen Freundin, der man Essen aus dem Haar pult, zur großen Romantik. Liebe ist das, was man tut. Keiner kann das so schön, gar so liebevoll auf den Punkt wie Kettcar bringen. Dazu singt Wiebusch immer auf seine unaufgeregte Art, die trotzdem immer zwingend ist. Wenn er bei „In deinen Armen“ von Thomas plus Mareike singt, dann strahlt das einfach nur sehr viel Schönheit und Zärtlichkeit aus. Bei dem Kettcar-Sänger klingt das nie kitschig, nie süßlich und schon gar nicht egal. Das ist derart sympathisch und heimelig, dass dies ähnliche Gefühle auslöst wie nach einer langen Reise, wenn man wieder das eigene Heim betritt. Kettcar ist auch immer ein bisschen ankommen – zu Hause.

„Zwischen den Runden“ wird so manchen Fan verprellen. Zu den Songs lässt sich nämlich kaum bis gar nicht hüpfen und eine ordentliche (Rock-)Party kann man dazu sicher auch nicht feiern. Das war auf dem Debüt ganz anders, aber diese Entwicklung setzte sich stetig fort und jetzt mit dem vierten Album ist die Band dann eben bei den ruhigen Tönen angekommen. Man muss ja auch erstmal die Traute haben die Streicher derart in den Vordergrund zu stellen, Gitarrenschrammeln gegen feines Picking einzutauschen, Schlagzeugscheppern gegen das Streicheln der Besen und Texte direkt in die Fresse! Auch das ist mit dieser Platte nämlich neu, Spielraum für Interpretationen gibt es nicht. Kettcar nennen die Dinge beim Namen. Das ist toll, ehrlich! Storytelling aus deutschen Landen der Güteklasse A ist ja selten genug der Fall.

Natürlich darf es auch mal lauter sein. „Schrilles buntes Hamburg“ geht dann auch etwas mehr nach vorne und drückt das Gaspedal auch mal durch. Das Trademark-Gitarrenspiel, an dem man früher die Kettcar-Songs erkennen konnte, ist dann auch hier wieder dabei. „Kommt ein Mann in die Bar“ oder „Weil ich es niemals so oft sagen werde“ sind die besten Element Of Crime Tracks der letzten Jahre. Den traurigsten und gleichzeitig schönsten Song der deutschen Musikgeschichte liefern sie mit „Zurück aus Ohlsdorf“ ab. Die Nummer sollte man alleine hören und wer dazu hemmungslos weinen möchte, braucht sich seiner Tränen nicht zu schämen. Das Stück wirkt lange, lange nach. Danke Kettcar - dafür und für „Zwischen den Runden“!

Fazit: Nicht jeder wird die Reise von Kettcar und „Zwischen den Runden“ mitmachen wollen. Die lauten Gitarren sind fast gänzlich in den Hintergrund getreten und man konzentriert sich jetzt mehr auf Streicher, Bläser und Klavier, eben Instrumente, die die Arrangements beherrschen. Das ist aber alles so liebevoll und herzig umgesetzt worden, dass einen die gehaltvollen Songs mit voller Wucht treffen. Das vermag in dieser Intensität kein Punkkracher zu bewerkstelligen. Ein ganz tolles Album ist das, dieses „Zwischen den Runden“. Eine romantische Platte - auch mit Erbrochenem im Haar. Oder genau darum!

http://www.kettcar.net/

Text: Torsten Schlimbach

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