Einstürzende Neubauten: Alles In Allem
Potomak / Indigo
VÖ: 15.05.2020
Wertung: 10/12
Tipp!
Die Einstürzenden Neubauten feiern 40-jähriges Jubiläum – Wahnsinn. Der Einfluss der Band ist gerade im Ausland immens. Neben Kraftwerk, Can und Neu! sind die Neubauten geschätzte Künstler. Die Feierlichkeiten bestreiten die Herren nun mit dem neuen Album „Alles In Allem“. Blixa Bargeld, N.U. Unruh, Alexander Hacke, Jochen Arbeit und Rudi Moser fügen ihrem Backkatalog ein sehr gutes Werk hinzu. Die Stadt Berlin spielt dabei eine zentrale Rolle. Auf der anderen Seite: hat sie das nicht irgendwie schon immer? Jetzt kann man es aber auch ganz explizit heraushören – musikalisch wie textlich.
Der Mythos Schrottplatz, der früher immer einiges für die Klangwelten der Neubauten bereithielt, ist ja längst nicht mehr zugänglich und Streifzüge kaum möglich. So mussten eben ein paar mit Lumpen gefüllte Reisetaschen herhalten. Das Stück heißt dann auch folgerichtig „Taschen“ und ist angelehnt an Ghayath Almadhouns Gedichtband „Ein Raubtier namens Mittelmeer“. Das Ertrinken vor den Grenzen Europas kriegt musikalisch eine bedrückende Atmosphäre verliehen. Die Stimme von Bargeld sorgt zusätzlich für eine Gänsehaut.
„Ten Grand Goldie“ bindet die Supporter der Band mit ein. Bargeld rief einige von ihnen an, Sprachfetzen finden sich nun in diesem Stück wieder. Die Supporter durften sowieso wieder ein Teil des Ganzen sein und wurden immer wieder zugeschaltet um dann über den Arbeitsprozess zu diskutieren. Die Nummer selber ist sehr tanzbar und macht ordentlich Alarm. Es gibt auch wieder Arbeitsweisen, welche die Einstürzenden Neubauten schon immer zu der etwas anderen Band gemacht haben. Wenn N.U. Unruh den Betonblock mit der Flex bearbeitet, stellt das immer noch Hörgewohnheiten auf den Kopf.
„Alles In Allem“ ist im Grunde ein ruhiges, gar zurückgenommenes Album. „Am Landwehrkanal“ ist gar derart zugänglich, dass auch Leute dazu schunkeln, die eigentlich nichts mit der Band am Hut haben. Bargeld verknüpft die eigene Geschichte mit der von Rosa Luxemburg, die im Hotel Eden ermordet und im besagten Kanal versenkt wurde. „Möbiliertes Lied“ klingt fast schon ein bisschen wie New Wave. „Zivilisatorisches Missgeschick“ holt den Presslufthammer raus. Die Atmosphäre ist abermals bedrückend und die Sounds erzeugen ein unbehagliches Gefühl. Das Wechselspiel zwischen laut und leise verstärkt die Düsternis.
„Seven Screws“ ist auf seine morbide Art und Weise ganz und gar schön. „Alles In Allem“ – der Titelsong – schwurbelt erst ein paar Sounds durch die Boxen, entwickelt sich aber zu einem fast schon sehr schönen Popstück. „Grazer Damm“ ist herausragend, geht aber auch an die Nieren. Bargeld verhandelt hier nämlich nicht nur seine Kindheit, sondern nimmt auch die Schrecken der Nazi-Vergangenheit thematisch auf. „Wedding“ ist textlich eine Wiederholungsschleife – musikalisch steigert sich die Nummer immer weiter. „Tempelhof“ beschreibt den Zustand des stillgelegten Flughafens und wie der Verfall eintritt und sich die Natur nach und nach alles zurückholt. Ein Ausblick in unsere Zukunft?
Fazit: So zugänglich wie auf „Alles In Allem“ waren die Neubauten lange nicht mehr. Der Schönheit steht aber stets die hässliche Fratze gegenüber und das wurde hier kongenial vertont und lyrisch in Szene gesetzt. Die Band ist somit ganz fest im Hier und Jetzt verankert, hat aber auch einige schöne Reminiszenzen an die eigene Vergangenheit untergebracht. Ein ganz starkes Album!
Text: Torsten Schlimbach
Einstürzende Neubauten: Lament
Mute Records
VÖ: 07.11.2014
Wertung: 8,5/12
Die Einstürzenden Neubauten waren noch nie eine Band die mit herkömmlichen Maßstäben gemessen werden konnte. Egal was diese Künstler auch veranstalteten, es war stets gegen alle Regeln des Musikgeschäfts gebürstet. Nicht selten trat dabei die völlige Dekonstruktion zu Tage. Was in dem einem Moment aufgebaut wurde, wurde im nächsten schon wieder krachend zum Einsturz gebracht. Musiziert wurde in der Vergangenheit schon auf und mit so ziemlich allem, was irgendwie Geräusche erzeugt und Lärm macht. Stille ist aber auch ein altbewährtes und probates Mittel der Einstürzenden Neubauten. Nichts muss und alles kann. Dies gilt auch wieder für „Lament“.
„Lament“ widmet sich dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Band um Blixa Bargeld stürzte sich vorab zunächst in die intensive Recherchearbeit. Tonbandaufnahmen von Kriegsgefangenen aus den Jahren 1914-1916 wurden ebenso gesichtet, wie Material aus dem Militärhistorischen Museum Dresden. Dies wurde dann teilweise für die Aufnahmen verwendet. Das Titelstück, welches gleichzeitig ein Klagelied ist, setzt sich zum Teil aus dem Werk eines flämischen Renaissancekomponisten zusammen. Die erste afroamerikanischen Kampftruppe, die sogenannten „Harlem Hell Fighters“, musizierte auch und wird auf „Lament“ von den Einstürzenden Neubauten geehrt.
Und so wie sich das liest, hört es sich dann auch an. Die Einstürzenden Neubauten haben wieder mal ein Album aufgenommen, welches im Grunde mit sämtlichen Konventionen bricht. Mit Musik im herkömmlichen Sinne hat das nichts, aber auch gar nichts zu tun. Eigentlich ist das unhörbar und doch zieht einen diese Platte in ihren Bann. Man wird in diesen Strudel gerissen, der nach und nach ein erschütterndes Bild offenbart. Kalt lässt einen „Lament“ bestimmt nicht. Dieses Konzeptalbum kann einen aufgrund der Thematik ja schon nicht kalt lassen. Mit dem ersten Track wird die „Kriegsmaschinerie“ in Gang gesetzt und wie sich die Neubauten da steigern, läuft es einem kalt den Rücken runter. Die „Hymnen“ kennt jeder und doch ist das in diesem Zusammenhang ein ganz schwerer Brocken. Und wenn bei „Lament 2.Abwärtspirale“ die Schüsse durch die Szenerie wie ein Donnerhall jagen, dann zuckt man unweigerlich zusammen. Beängstigend, wie real dies von den Einstürzenden Neubauten auf ihre ganz eigene Art und Weise vertont wurde.
Auch „Der 1. Weltkrieg (Percussion Version)“ ist voller berührender Düsternis. Die vielen Wortfetzen zwischendurch schleudern einem das Grauen mit voller Wucht um die Ohren – dazu muss man gar nicht alles verstehen. „How Did I Die?“ wird durch die dunkle Stimme von Bargeld kongenial getragen. Mephisto ist auch wieder da, Nick Cave hat seine Spuren hinterlassen. „Sag Mir Wo Die Blumen Sind“ ist ebenfalls genial und wie Bargeld mit seiner Stimme verschiedene Stimmungen erzeugen kann ist schlicht und ergreifend herausragend. Und dann geht es mit „Der Beginn Des Weltkrieges 1914“ in die Abteilung Hörbuch und Bargeld erzählt aus der Sicht der Tiere. „All Of No Man´s Land Is Ours“ beendet dieses Konzeptalbum so eindrucksvoll wie es begonnen hat.
Fazit: Die Einstürzenden Neubauten legen mit „Lament“ ein Album zum Beginn des 1. Weltkrieges vor, welches einem die Sprache verschlägt. Wer die Band um Blixa Bargeld kennt und mit welchen Mitteln diese Musik inszeniert, weiß, dass es hier an die Substanz geht. Kalt lässt einen das ganz sicher nicht. „Lament“ muss man letztlich als eine Art bedrückendes Hörspiel verstehen. So schnell wird man diese 77 Minuten sicher nicht vergessen.
Text: Torsten Schlimbach