Tocotronic: 13.03.2018, E-Werk, Köln

Hamburger Schule. Diskurspop. Abitur. Studenten. Blumfeld. Die Sterne. Programmatische Ansage. Slogans. Alles Wörter, ohne die ein Text über Tocotronic anscheinend nur schwerlich auszukommen scheint. Immer noch und dies nach all den Jahren. Das alles soll hier im weiteren Verlauf des Textes aber keine Rolle spielen! Versprochen! Die Band hat sich in all den Jahren in vielen Musikecken aufgehalten und ausgetobt und seit den Anfängen viele große Schritte in andere Richtungen unternommen. Man kann die üblichen Plattitüden auch mal ruhen lassen!

Tocotronic sind immerhin schon seit 25 Jahren eine fest Größe im deutschsprachigen Musikraum. Letztlich sind Tocotronic im Jahre 2018 eine lärmende Punkrockband – mit Betonung auf Rock! Dazu aber später mehr. Zunächst darf man an diesem Märztag nämlich die Vorgruppe ILGEN-NUR bestaunen. Die Band aus Hamburg dürfte der Großteil der Anwesenden nicht auf dem Zettel haben. Das könnte sich allerdings bald ändern, denn die Mischung aus The Cure, The Smiths und anderen Zutaten des 80er Indierocks lässt durchaus aufhorchen. Gepaart mit der weiblichen Stimme und manchen disharmonischen Tönen zwischen der tollen und höchst melodischen Grundausrichtung geben dem Set durchaus eine spannende Note. Das wird auch mit wohlwollendem Applaus der Zuhörer goutiert. Für ILGEN-NNUR dürfte sich der Support-Slot durchaus bezahlt machen. Finanziell vielleicht nicht, aber der Bekanntheitsgrad dürfte sich nach der Tour immens gesteigert haben. Man konnte übrigens am Merchstand ein Tape der Kapelle erwerben - keine CD, kein Vinyl!

Und Tocotronic? Die haben an diesem Abend und auf dieser Tour Lust auf und am Krach. Die Setlist ist bunt gemischt und so ziemlich alle Phasen der nunmehr 25-jährigen Karriere werden bedacht. Es sind wütende Songs, dabei ist die Band gar nicht wütend, sondern macht einen ziemlich zufriedenen und aufgeräumten Eindruck. „Hallo Köln! Wir sind die Gruppe Tocotronic und bringen euch die Unendlichkeit“ läutet Dirk von Lowtzow das Konzert ein. Man fühlt sich direkt heimisch. Es ist ja nicht nur eine Reise in die Jugend des Sängers, sondern auch ein Stück in die eigene. „Electric Guitar“ dürfte so ziemlich jeder männliche Zuschauer auch so erlebt haben. „Hey Du“, der Song über das Leben als Jugendlicher auf dem Land, bei dem jeder, der nicht der Norm entspricht, schief angeguckt oder sogar bedroht wird, dürfte auch ein paar Leuten im E-Werk aus dem Herzen sprechen. Das alles wird mit einer Wucht vorgetragen, als wären die Peiniger von einst mit im Raum und sollten jetzt nachträglich abgestraft werden. Die neuen Songs werden übrigens erstaunlich gut aufgenommen - so, als wären das längst Klassiker des Backkatalogs.

Den berührendsten Moment gibt es mit „Unwiederbringlich“, jenem Lied über den Tod eines guten Freundes. Hier muss man dem Publikum mal ein ganz großes Kompliment aussprechen, denn man kann eine Stecknadel fallen hören. Mittlerweile ist es ja an der Tagesordnung, dass man sich zum Quatschen auf Konzerten trifft. Heute beweisen die Leute einfeines Gespür und lassen diesen eindringlichen Song auf sich wirken – ein paar Tränchen im Knopfloch inbegriffen. Die 2.000 Anwesenden heben sich sowieso erfreulich vom heutigen Konzertstandard ab und der Handywald hält sich in Grenzen - stattdessen: mitsingen, springen, tanzen – Pogo! „Let There Be Rock“, „Aber Hier Leben, Nein Danke“ oder „Macht Es Nicht Selbst“ sind Nummern aus der Klassikerabteilung, die man schon lange nicht mehr so frisch und punkigrotzig von Tocotronic dargeboten bekommen hat. Der Bass von Jan Müller wummert so schön im Bauch, Rick McPhail malt mit seiner Gitarre dazu die schönsten Neil Young-Gedächtnissolos und Arne Zank hält den ganzen Laden scheppernd zusammen. Das alles geschieht vor dem Sternenhimmel, der da als Bühnenbild fungiert. Dirk von Lowtzow weiß zu berichten, dass die Zeitung in Erfurt nach dem dortigen Konzert bei „Aber Hier Leben, Nein Danke“ einen Hauch von Stadionrock erkannt haben wollte. Ganz ehrlich, die Songs gehören nicht in die Stadien, sondern in einen Club wie diesen hier und so klingen sie auch! Anarchie ist nicht nur eine Begrifflichkeit und so passt es wie selbstverständlich, dass von Lowtzow eine ihm zugeworfene Kappe aufsetzt und wer den Schriftzug nicht erkennen kann, dem hilft der Sänger gerne nach: Antifa!

Fazit: Ein betörend schöner Abend. Feedback gibt es zum Schluss mit „Freiburg“ auf die Ohren. Tocotronic spielen sowieso ein facettenreiches und sehr gutes Set. Die neuen Songs reihen sich ganz vorzüglich zwischen den Klassikern ein. Man wird das „Die Unendlichkeit“-Album nach der Liveerfahrung mit anderen Ohren hören – garantiert. Es sind dringliche Songs. Tocotronic und ihre Lieder wirken nie aufgesetzt. Haltung ist wichtig. Besonders in diesen Tagen. Die Band will aufwühlen und schafft das auch! Tocotronic waren nie einverstanden. Sind es immer noch nicht. Verdammt gut zu wissen, dass es noch eine solche Band gibt!

Setlist:

 

  • Die Unendlichkeit

  • Electric Guitar

  • Let There Be Rock

  • Drüben auf dem Hügel

  • Kapitulation

  • Wie wir leben wollen

  • Ich lebe in einem wilden Wirbel

  • Die Grenzen des guten Geschmacks 2

  • Aber hier leben, nein danke

  • Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen

  • Hey Du

  • This Boy Is Tocotronic

  • Unwiederbringlich

  • Zucker

  • Sag alles ab

  • Macht es nicht selbst

  • Das Geschenk

  • Alles was ich immer wollte war alles

  • Encore:
  • Hi Freaks

  • Letztes Jahr im Sommer

  • Encore 2:
  • Explosion

  • Encore 3:

  • Freiburg

 

(Torsten Schlimbach bedankt sich für die freundliche Unterstützung bei Isabel Sihler von Belle Promotion, Universal und natürlich bei Tocotronic!)

Empfehlen Sie diese Seite auf:

Druckversion | Sitemap
Dream Out Loud Magazin: © Torsten Schlimbach / Header: © Kai Knobloch